Erzähle uns von Thomas. Wie habt ihr euch kennengelernt?
Wir lernten uns 1993 kennen, in einer Zeit, als unsere Liebe noch nicht selbstverständlich war. Es war in einer Buchhandlung in Hamburg. Thomas arbeitete dort als Buchhändler, ich suchte nach einem Gedichtband von Rimbaud. Er empfahl mir stattdessen Walt Whitman – „Leaves of Grass“. Seine Augen leuchteten, als er über Poesie sprach. Drei Tage später trafen wir uns zum Kaffee. Aus dem Kaffee wurde ein Abendessen, aus dem Abendessen ein Spaziergang durch die nächtliche Stadt. Wir redeten über Bücher, Träume, das Leben.
Die ersten Jahre lebten wir unsere Beziehung eher versteckt. Ich war Architekt in einem konservativen Büro, Thomas‘ Eltern waren streng katholisch. In der Öffentlichkeit waren wir „gute Freunde“, zu Hause in unserer kleinen Wohnung in der Schanze konnten wir wir selbst sein. Thomas war der Romantiker von uns beiden. Er schrieb mir kleine Gedichte, versteckte Zettel mit Zitaten in meiner Jackentasche. Ich war der Praktische, der die Steuererklärung machte und uns durch den Behördendschungel navigierte. Als 2001 die eingetragene Lebenspartnerschaft möglich wurde, waren wir unter den Ersten. Keine große Feier, nur wir beide beim Standesamt, danach Champagner im Park. Thomas nannte es unser „kleines privates Coming-out gegenüber dem Staat“. Über die Jahre wuchsen wir in unsere Rollen hinein. Die Buchhandlung wurde zu „unserer“ Buchhandlung – ich half an den Wochenenden aus, Thomas gestaltete das Schaufenster nach meinen Entwürfen. 2006 konnten wir sie kaufen, als der alte Besitzer in Rente ging.
Wie hast du von seiner Krankheit erfahren?
Die Diagnose kam 2022, kurz nach unserem 29. Jahrestag. Thomas klagte seit Wochen über Rückenschmerzen, aber wir dachten, es käme vom vielen Stehen in der Buchhandlung. Erst als er anfing, deutlich Gewicht zu verlieren, bestand ich auf einem gründlichen Check. Der Arzt rief uns an einem Donnerstagnachmittag an, kurz vor Ladenschluss. „Kommen Sie bitte beide morgen in die Praxis.“ In dem Moment wussten wir beide, dass etwas nicht stimmte.
Die Diagnose war wie ein Schlag: Bauchspeicheldrüsenkrebs, bereits metastasiert. Die Ärzte gaben ihm sechs bis acht Monate. Thomas nahm es mit der gleichen ruhigen Würde auf, mit der er allem im Leben begegnete. „Immerhin hatte ich die Chance, die Welt mit dir zu teilen“, sagte er. Ich hingegen war wie betäubt. Dreißig Jahre waren nicht genug.
Wie war die Zeit der Krankheit für euch?
Die folgenden Monate waren eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Thomas begann eine Chemotherapie, nicht um zu heilen, aber um Zeit zu gewinnen. Die guten Tage nutzten wir intensiv. Wir organisierten die Buchhandlung um, stellten eine neue Managerin ein. In den Phasen zwischen den Therapien reisten wir noch einmal nach Paris, wo wir 1995 unseren ersten gemeinsamen Urlaub verbracht hatten. Thomas war schon deutlich schwächer, aber seine Augen leuchteten noch genauso wie damals, als wir stundenlang durch die Shakespeare and Company streiften.
Wir sprachen viel in dieser Zeit, mehr als je zuvor. Über unsere Ängste, unsere Hoffnungen, über das, was bleiben würde. Thomas machte sich mehr Sorgen um mich als um sich selbst. „Versprich mir, dass du die Buchhandlung weiterführst“, sagte er oft. „Sie ist unser Vermächtnis.“ Nachts, wenn die Schmerzen ihn wachhielten, lasen wir uns gegenseitig vor – alte Lieblingsgedichte, neue Entdeckungen, manchmal einfach nur die Tageszeitungen. Die letzten Wochen verbrachten wir zu Hause, mit Unterstützung eines Palliativteams. Thomas bestand darauf, dass ich ihm bis zum Schluss aus seinen Lieblingsbüchern vorlas. Manchmal schlief er dabei ein, manchmal diskutierte er noch mit erstaunlicher Klarheit über einzelne Passagen. In seiner letzten Nacht las ich ihm noch einmal aus „Leaves of Grass“ vor – der Kreis schloss sich.
Wie hast du von seinem Tod erfahren? Wie hast du dich in dem Moment gefühlt?
Thomas starb an einem Frühlingsmorgen, friedlich in unserem Bett. Die Sonne schien durch die offenen Fenster, die Vögel sangen. Es war, als hätte er sich den Moment ausgesucht. Seine letzten Worte waren: „Lies weiter.“ Ich wusste nicht, ob er das Buch meinte oder das Leben. Wahrscheinlich beides.
In diesem Moment fühlte ich eine seltsame Mischung aus tiefer Trauer und einem Gefühl von Frieden – er war ohne Schmerzen gegangen, in unserem gemeinsamen Zuhause, während ich ihm aus seinem Lieblingsbuch vorlas. Gleichzeitig war da diese überwältigende Leere, als ob jemand den Ton aus der Welt gedreht hätte.
Was waren deine ersten Gedanken? Was hast du gemacht, nachdem du realisiert hast, dass er gegangen ist?
Mein erster zusammenhängender Gedanke war absurderweise ein Zitat aus einem seiner Lieblingsromane: „Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie gestern.“ Ich blieb noch lange neben ihm sitzen, hielt seine Hand, die langsam kalt wurde. Irgendwann rief ich seine Schwester an, dann das Palliativteam. Die praktischen Dinge mussten erledigt werden, aber alles fühlte sich unwirklich an. Dreißig Jahre gemeinsames Leben, und plötzlich sollte ich Formulare ausfüllen und Entscheidungen treffen.
In den Stunden danach ging ich durch unsere Wohnung und berührte alles, was von ihm war – seine Lesebrille auf dem Nachttisch, seine ordentlich aufgehängte Jacke, seinen Lieblingssessel. Als hätte ich Angst, dass diese Dinge verschwinden würden wie er.
Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich? Hast du dir die organisatorische Verantwortung geteilt?
Die Tage bis zur Beerdigung verschwammen ineinander. Seine Schwester war meine Rettung – sie übernahm einen Großteil der Organisation, während ich wie in Trance funktionierte. Die formelle Beerdigung war anders, als Thomas sie sich gewünscht hätte – zu ernst, zu steif. Aber die Trauerfeier danach in der Buchhandlung, die war ganz in seinem Sinne.
Wir hatten den Laden für einen Tag geschlossen, alle Stühle im Kreis aufgestellt. Seine Lieblingsbücher lagen aus, Fotos aus dreißig Jahren gemeinsamen Lebens. Menschen kamen und gingen, erzählten Geschichten, lasen Passagen vor. Seine Schwester, die uns anfangs abgelehnt hatte, hielt eine bewegende Rede darüber, wie Thomas ihr durch seine Art zu lieben die Augen geöffnet hatte. Ein junges queeres Paar, Stammkunden von uns, erzählte, wie Thomas ihnen Mut gemacht hatte, zu ihrer Liebe zu stehen.
Gab es besonders schwierige Situationen für dich in dieser Zeit?
Die schwierigsten Momente waren die Kleinigkeiten – wie er morgens immer als Erstes die Fenster öffnete, egal wie kalt es war. Seine Angewohnheit, beim Lesen die Lippen zu bewegen. Der Geruch von frischem Kaffee und Büchern, der ihm aus der Buchhandlung anhaftete. Die Art, wie er abends im Bett seine kalten Füße an meine legte.
Besonders hart war der erste Bestelltermin mit unseren Verlagsvertretern. Thomas hatte immer die Belletristik-Bestellungen gemacht, kannte jeden Autor, jede Neuerscheinung. Ich saß da und dachte die ganze Zeit: „Was hätte Thomas bestellt?“ Seine Handschrift war überall – in den Notizen zu Stammkunden, in den Vorbestellungen, die er noch aufgenommen hatte, in der Art, wie die Bücher angeordnet waren.
Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung? Was hast du unternommen um mit der Trauer umzugehen?
Die ersten Monate nach seinem Tod waren ein Nebel aus Trauer und Alltag. Ich funktionierte, aber ich lebte nicht wirklich. Die Buchhandlung wurde mein Anker. Dort spürte ich Thomas‘ Präsenz am stärksten – in jedem Buch, das er ausgewählt hatte, in jeder Ecke, die seine Handschrift trug.
Was mir besonders half, waren die anderen queeren Paare unserer Generation. Sie verstanden die besondere Art unseres Verlustes – wie es ist, jemanden zu verlieren, mit dem man nicht nur das Leben, sondern auch den Kampf um Anerkennung geteilt hat. In unserer Trauergruppe für LGBTQ+ Menschen fand ich einen Raum, wo ich auch über diese Aspekte sprechen konnte. Über die Jahre der Versteckspiele, die gemeinsamen Kämpfe, die kleinen und großen Siege auf dem Weg zur Akzeptanz.
Langsam begann ich, kleine Veränderungen in der Buchhandlung vorzunehmen. Wir richteten eine eigene Abteilung für queere Literatur ein – etwas, worüber Thomas und ich oft gesprochen hatten. Jeden Monat organisieren wir jetzt eine Lesung mit LGBTQ+ Autoren. Die Gedichtbände stehen noch immer dort, wo er sie eingeordnet hat – Whitman neben Rimbaud.
Wie schaust du heute auf alles zurück?
Heute, ein Jahr nach seinem Tod, finde ich Trost in den Worten, die er liebte. Manchmal setze ich mich abends in seinen alten Lesesessel, schlage wahllos eines seiner Bücher auf und lese. Fast immer finde ich eine Stelle, die er markiert oder kommentiert hat. Es ist, als würde er noch immer mit mir sprechen, durch die Literatur, die er so liebte.
Was hast du durch Thomas und seinen Tod gelernt?
Ich habe vor allem gelernt, dass Liebe viele verschiedene Formen kennt und jede einzelne davon wertvoll ist. Manchmal ist Akzeptanz ein langer, schwieriger Weg, aber am Ende lohnt er sich immer. Ich habe entdeckt, dass in Büchern Erinnerungen weiterleben können und dass Trauer genauso individuell ist wie die Liebe. Das wichtigste aber ist: Das Leben geht weiter, auch wenn es anders wird als zuvor, und das ist vollkommen in Ordnung.
In der Schublade meines Nachttischs liegt noch immer der letzte Zettel, den er mir in die Jacke steckte. Ein Zitat von Whitman: „Wir waren zusammen. Der Rest ist mir egal.“ Genau so möchte ich unsere Geschichte in Erinnerung behalten.
Was würdest du anderen Menschen in einer ähnlichen Situation raten?
Anderen Menschen in einer ähnlichen Situation möchte ich vor allem raten, sich Zeit für den Abschied zu nehmen, wenn sie diese Zeit haben – sie ist kostbar. Es ist wichtig, sich helfen zu lassen, sowohl praktisch als auch emotional, und Menschen zu finden, die die spezifische Situation wirklich verstehen können.
Außerdem half es mir, Orte und Wege zu suchen, um die Verbindung zu Thomas zu bewahren, auch nach seinem Tod. Erlaubt euch, auch die schönen Momente in der Trauer zu sehen – sie gehören dazu und sind nicht weniger berechtigt. Gebt der Trauer den Raum, den sie braucht, aber lasst auch Platz für die Dankbarkeit über die gemeinsame Zeit, die ihr hattet.