TRAUERNDE ERZÄHLEN

Simon

Simon ist im Jahr 2023 plötzlich verstorben. Hier erzählt seine Schwester über ihre Erfahrungen im Umgang mit dem Tod und der Trauer.

Wie würdest du deine Beziehung zu Simon beschreiben? Wie war er als Bruder?

Zwischen Simon und mir lagen vier Jahre. Er war der Große, ich die Kleine – eine klassische Geschwisterkonstellation. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen, wie alle Geschwister. Als Kinder konnten wir uns streiten wie die Kesselflicker, aber sobald einer von uns Probleme hatte, hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.

Mit dem Erwachsenwerden wurde unsere Beziehung entspannter. Simon war mit 28 erfolgreicher Webdesigner, ich studierte noch Lehramt. Wir wohnten nur eine halbe Stunde voneinander entfernt und trafen uns regelmäßig zum Sonntagsfrühstück. Er brachte dann immer diese unfassbar guten Croissants mit, die es nur bei diesem einen kleinen Bäcker in seiner Straße gab.

Wie hast du von seinem Unfall erfahren?

Die Nachricht kam während meiner Vorlesung. Drei verpasste Anrufe von Mama. Als ich zurückrief, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihre Stimme klang anders. „Simon hatte einen Unfall. Er… er hat es nicht geschafft.“ Die Worte ergaben keinen Sinn. Vor zwei Tagen hatten wir noch über seine Urlaubspläne für den Sommer gesprochen.

Was waren deine ersten Gedanken? Wie hast du reagiert?

Mein erster zusammenhängender Gedanke war: Das muss ein Irrtum sein. Simon war immer vorsichtig im Verkehr, trug seinen Helm. Aber manchmal reicht eine Sekunde Unachtsamkeit – ein Auto übersah ihn an einer Kreuzung. Die Verletzungen waren zu schwer.

Wie waren die ersten Stunden nach der Nachricht?

Die ersten Tage waren wie in Watte gepackt. Familie und Freunde kamen, brachten Essen, kümmerten sich um die Organisation. Ich funktionierte irgendwie, half bei den Vorbereitungen für die Beerdigung, suchte Fotos aus. Nachts lag ich wach und scrollte durch unsere WhatsApp-Chats. Das letzte, was er mir geschickt hatte, war irgendein blödes Meme. Trotzdem hätte ich mir nichts lieber gewünscht, als wieder mit ihm zu schreiben.

Wie war die Bestattung für dich?

Die Beerdigung selbst war schön, wenn man das so sagen kann. Viele von Simons Freunden kamen, seine Arbeitskollegen, sogar sein alter Klassenlehrer. Sie alle hatten Geschichten über ihn zu erzählen – wie hilfsbereit er war, wie er andere zum Lachen brachte, wie er immer eine Lösung fand. Es war seltsam zu sehen, wie viele Leben er berührt hatte, ohne dass ich es wirklich mitbekommen hatte.

Was waren besonders schwere Momente?

Schwer wurde es erst danach. Der Alltag sollte weitergehen, aber nichts fühlte sich normal an. Ich schob meine Prüfungen um ein Semester. Mama stürzte sich in die Arbeit, Papa wurde still. Simons Wohnung mussten wir auflösen. Jeden Gegenstand, den wir in die Hand nahmen, verband eine Geschichte mit ihm. Seine Kaffeetasse mit dem abgebrochenen Henkel, die er partout nicht wegwerfen wollte. Die Gitarre, die er sich zum 25. Geburtstag gekauft hatte, obwohl er nie richtig spielen lernte.

Was hat sich für dich am meisten verändert?

Was mir besonders zu schaffen machte, war das Gefühl, jetzt Einzelkind zu sein. Niemand mehr, der sich mit mir über unsere Eltern aufregen konnte. Niemand, der die gleichen Kindheitserinnerungen teilte. Bei Familientreffen fehlte sein sarkastischer Kommentar zu Tante Berthas Kartoffelsalat.

Gab es einen Wendepunkt in deiner Trauer?

Ein Wendepunkt kam durch Simons besten Freund Jan. Er erzählte mir, dass Simon ihm von meinen Zweifeln am Lehrerberuf erzählt hatte. „Er war so stolz auf dich“, sagte Jan, „dass du deinen eigenen Weg gehst.“ Das traf mich unerwartet. Simon und ich hatten nie viel über solche Gefühle gesprochen.

Was hat dir geholfen, mit der Trauer umzugehen?

Ich begann, ein Tagebuch zu schreiben. Nicht nur über die Trauer, sondern auch Briefe an Simon. Was ich ihm noch sagen wollte, was ich vermisste, wofür ich dankbar war. Es half mir, die Verbindung zu ihm nicht zu verlieren. Gleichzeitig merkte ich, wie sich die Erinnerungen veränderten – sie taten noch weh, aber es mischte sich auch etwas Warmes, Dankbares hinein.

Nach einem Jahr nahm ich sein altes Rennrad und ließ es reparieren. Simon hatte immer gesagt, ich solle mehr Sport machen. Anfangs fuhr ich nur kurze Strecken, aber mittlerweile ist es zu einem festen Teil meines Lebens geworden. Manchmal, wenn ich unterwegs bin, habe ich das Gefühl, er fährt neben mir her und macht sich über meine noch immer nicht perfekte Schalttechnik lustig.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Heute, zwei Jahre später, studiere ich wieder. Die Trauer kommt noch in Wellen, besonders an seinem Geburtstag oder wenn ich zufällig sein Lieblingslied höre. Aber es ist anders als am Anfang. Ich kann wieder über die lustigen Momente mit ihm lachen. In meinem Arbeitszimmer hängt sein altes Büro-Whiteboard, auf dem er immer seine Projekte plante. Manchmal schreibe ich ihm darauf Nachrichten.

Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?

Trauer verläuft nicht linear. Manchmal denkt man, man hat es überwunden, und dann trifft es einen wieder aus heiterem Himmel. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und nichts zu überstürzen. Erinnerungen dürfen auch schön sein, mitten in der Trauer. Man muss seinen eigenen Weg finden, mit dem Verlust umzugehen. Die Beziehung zu den Eltern verändert sich – manchmal muss man auch stark für sie sein. Der Mensch ist nicht wirklich weg, er lebt in den kleinen Momenten des Alltags weiter.

Simon hätte gewollt, dass ich weitermache. Nicht verbittert, sondern mit der gleichen Neugier aufs Leben, die er hatte. Das versuche ich jeden Tag. Und manchmal, wenn ich ein besonders schlechtes Meme sehe, öffne ich automatisch WhatsApp – und erinnere mich dann, dass ich es ihm nicht mehr schicken kann. Aber ich lächle dabei.

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