⚠️ TRIGGERWARNUNG ⚠️ In dieser Geschichte kommen die Themen Suizid und Mobbing vor. Wenn du dich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen möchtest oder du das Gefühl hast, dieses Thema tut dir nicht gut, lies diese Geschichte bitte nicht.
Erzähle von deiner Tochter Sophie. Wie war eure Beziehung?
Sophie war mein ein und alles. Seit ihre Mutter uns verlassen hatte, als sie vier war, waren wir ein eingespieltes Team. Eine intelligente, kreative Teenagerin mit einer Leidenschaft fürs Zeichnen. Ihr Instagram-Account war voll mit ihren Kunstwerken, und sie träumte davon, Grafikdesign zu studieren. Wir hatten schon Kunsthochschulen recherchiert, Tage der offenen Tür markiert.
Als alleinerziehender Vater versuchte ich, ihr den bestmöglichen Start ins Leben zu geben. Wir hatten unsere Rituale – jeden Sonntagmorgen Pfannkuchen, abends oft gemeinsames Zeichnen am Küchentisch. Ich dachte immer, wir könnten über alles reden. Heute weiß ich, wie viel sie für sich behielt.
Wann hast du erste Veränderungen an ihr bemerkt?
Die Veränderungen kamen schleichend. Sophie, die früher so lebhaft war, wurde stiller. Sie verbrachte mehr Zeit in ihrem Zimmer, zeichnete weniger. Anfangs dachte ich, das sei normal für eine 16-Jährige. Pubertät eben. Sie trug nur noch weite Pullis, löschte plötzlich ihren Instagram-Account. „Soziale Medien sind toxisch, Papa“, sagte sie nur.
Wenn ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte sie immer. „Nur Schulstress.“ Ich bot ihr an, mit den Lehrern zu sprechen, aber sie wehrte vehement ab. Heute weiß ich, dass sie Angst hatte, es würde alles noch schlimmer machen.
Wann wurde dir klar, dass es ernst war?
Der Wendepunkt kam, als ihre beste Freundin Lisa mich anrief. Sie erzählte von einer Gruppe in der Schule, die Sophie seit Monaten mobbte. Es hatte mit fiesen Kommentaren unter ihren Kunstposts begonnen. Dann wurden Screenshots ihrer Zeichnungen bearbeitet und mit gemeinen Texten in einer WhatsApp-Gruppe geteilt. In der Schule tuschelten sie, wenn sie vorbeiging, schlossen sie aus.
Lisa zeigte mir einige der Nachrichten auf Sophies Handy. Sie hatten sogar ein Fake-Profil mit ihren bearbeiteten Zeichnungen erstellt. „Alle können sehen, was für ein Freak du bist“, stand da. Und: „Talentlose Außenseiterin.“ „Warum lebst du überhaupt noch?“
Wie hast du reagiert?
Ich ging sofort zur Schulleitung. Sie versprachen, sich darum zu kümmern, aber ich spürte ihre Hilflosigkeit beim Thema Cybermobbing. Es gab Gespräche mit den Eltern der anderen Schüler. Einige waren betroffen, andere wiegelten ab. „Das ist doch nur Spaß unter Jugendlichen.“
Ich fand eine Therapeutin für Sophie, aber sie ging nur zweimal hin. „Die können mir auch nicht helfen, Papa.“ Ich bot ihr an, die Schule zu wechseln, aber sie hatte Angst, dass es an der neuen Schule genauso werden würde. Im Internet würde sie ja trotzdem gefunden werden.
Wie war der Tag, als du sie verloren hast?
Es war ein ganz normaler Mittwoch. Sophie ging zur Schule, ich zur Arbeit. Mittags schrieb sie mir noch eine Nachricht: „Hab dich lieb, Papa.“ Ich antwortete mit einem Herz, dachte mir nichts dabei. Als ich abends nach Hause kam, fand ich sie in ihrem Zimmer. Sie hatte Tabletten genommen. Neben ihr lag ein Brief: „Es tut mir leid, Papa. Ich bin einfach zu müde zum Kämpfen.“
Was waren deine ersten Gedanken? Wie hast du reagiert?
Mein erster Gedanke war: Das ist ein Albtraum, ich wache gleich auf. Dann kam die Panik. Ich rief den Notarzt, versuchte eine Herzdruckmassage, schrie sie an, dass sie nicht aufgeben darf. Die nächsten Stunden sind nur noch Fragmente. Sirenenlicht. Polizeibeamte. Sophies leeres Zimmer.
Lisa kam noch in der Nacht, weinend, mit Sophies Handy. Sie hatte den Code und zeigte mir alles – Nachrichten, Screenshots, die ganze Grausamkeit der letzten Monate. Ich war wie betäubt. All das war passiert, und ich hatte nichts bemerkt.
Wie waren die Tage bis zur Beerdigung?
Die Organisation der Beerdigung war surreal. Sophie hatte in ihrem Brief geschrieben, dass sie ihre Kunstwerke dabei haben wollte. Ich druckte ihre Zeichnungen aus, rahmte sie ein. Die Schule bot eine Trauerfeier an, aber ich lehnte ab. Der Gedanke, dass ihre Peiniger dabei sein könnten, war unerträglich.
Stattdessen organisierten ihre echten Freunde eine Gedenkfeier im Jugendhaus, wo Sophie oft gezeichnet hatte. Sie hängten ihre Kunst auf, erzählten Geschichten. Eine Freundin hatte alle ihre digitalen Kunstwerke gesammelt und eine Diashow gemacht. Zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte ich, dass Sophie irgendwie anwesend war.
Was waren besonders schwere Momente?
Das Schlimmste war das Aufräumen ihres Zimmers. Jeder Gegenstand erzählte eine Geschichte. Ihr Zeichenblock mit den letzten, unfertigen Skizzen. Die Klamotten, die sie nicht mehr trug, weil sie sich darin nicht mehr wohlfühlte. Ihr Laptop mit den offenen Tabs zu „Wie gehe ich mit Mobbing um?“
Wie waren die ersten Wochen und Monate danach?
Die ersten Monate waren ein Wechselbad aus Trauer, Wut und Schuldgefühlen. Ich ging zur Arbeit, funktionierte irgendwie, aber zu Hause starrte ich stundenlang auf ihre Zeichnungen. Hätte ich die Zeichen früher erkennen müssen? Warum hatte sie sich mir nicht anvertraut?
Was hat dir geholfen, mit der Trauer umzugehen?
Ich fand eine Selbsthilfegruppe für Eltern, die Kinder durch Suizid verloren haben. Dort traf ich andere Väter und Mütter, die ähnliches durchgemacht hatten. Wir sprachen über Warnsignale, über Schuldgefühle, über das Weiterleben danach.
Lisa und einige von Sophies Freunden besuchen mich noch regelmäßig. Sie erzählen mir von ihrer Sophie, Geschichten, die ich noch nicht kannte. Manchmal zeichnen wir zusammen in der Küche, wie Sophie und ich es früher taten.
Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?
Ich habe gelernt, dass Mobbing niemals „nur Spaß“ ist und die Folgen tödlich sein können. Auch starke, kreative Menschen können innerlich zerbrechen, und Warnsignale sind oft subtil – wie Rückzug, Interessenverlust oder Verhaltensänderungen. Das Internet vergisst zwar nie, aber man kann lernen, damit umzugehen. Es braucht ein ganzes Dorf, um Mobbing zu stoppen, und manchmal ist Zuhören wichtiger als Lösungen anzubieten.
Was möchtest du anderen Eltern mitgeben?
Anderen Eltern möchte ich mitgeben, dass sie Verhaltensänderungen ihrer Kinder ernst nehmen und offen über Mobbing und psychische Gesundheit sprechen sollten. Es ist wichtig, sich für die Online-Welten der Kinder zu interessieren und professionelle Hilfe zu suchen – sowohl für die Kinder als auch für sich selbst. Eltern sollten einen sicheren Raum schaffen, wo Kinder sich anvertrauen können, dabei wachsam, aber nicht überwachend sein und Präventionsprogramme an Schulen unterstützen.