Tim

Tim

Erzähl mir von der Nacht, in der du von seinem Tod erfahren hast.

Ich habe in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar von dem Tod meines Cousins erfahren. Zu diesem Zeitpunkt war ich in meiner kleinen Wohnung in meiner Studienstadt. Ich habe bereits ein paar Stunden zuvor, gegen 1.45 Uhr nachts, die Nachricht erhalten, meine Tante sei mit meinem Cousin verschwunden. Gegen 3.47 Uhr rief mein Vater mich an und teilte mir unter Tränen mit, dass sie aufgefunden worden sind, er jedoch tot. Ich habe am Telefon geschrien und geweint. Um mich herum fühlte sich alles so unwirklich an – ich war wie benommen. Ich bin in den Stunden danach in meine Heimat gefahren und fühlte im gesamten Körper eine starre Lähmung, die mir half, im Zug nicht zusammenzubrechen. Die Tage darauf war alles benommen und die Welt lag im Dunkeln vor mir. Ich wusste, meine Tante hat meinen Cousin getötet und der Schmerz war kaum aushaltbar.

Wie hast du die Zeit bis zur Bestattung erlebt?

Zunächst wurde der Körper meines Cousins kriminalpolizeilich untersucht. Nach dieser Phase konnte die Familie mit dem weiteren Umgang entscheiden. Mein Onkel entschied sich für eine Urnenbestattung um ihm selbst mehr Zeit zu geben, sich darauf vorzubereiten. Wir konnten jedoch eine Woche nach der Ermordung den Leichnam meines Cousins sehen und ihn verabschieden. Das Bestattungsunternehmen hat ihn dafür aufgebahrt und mein Opa suchte einen weißen Sarg aus. Der Weg zu seinem offenen Sarg, den ich gewollt allein beschritt, war der schlimmste Gang meines Lebens. Die Beerdigung war Ende Februar. Die Zeit bis dahin fühlte sich endlos an.

Der Tag der Bestattung – Wie hast du ihn erlebt?

Der Tag der Bestattung war von einem überragenden Zusammenhalt von Familie und Freunden geprägt. Meine Stiefmutter brachte morgens meinen kleinen Halbbruder in den Kindergarten, mein Vater und ich machten uns fertig. Als sie wieder da war, fuhren wir zu meinem Opa in das Haus, in dem die gesamte Familie bereits wartete. Familienmitglieder schmierten Stullen, um uns bei Kräften zu halten. Ich sollte und wollte während der Beerdigung eine Rede halten. Ich ging in den Garten und übte diese unter Tränen. Mein Onkel kam raus zu mir und nahm mich fest in seine Arme.

Später standen mein Vater, mein Onkel und ich schweigend nebeneinander im Garten und schauten in die Sonne. Wir fuhren vor zum Friedhof, während mein Onkel mit seinem Cousin noch kurz zu Hause innehielt. Beim Ankommen am Friedhof standen über hundert Menschen vor der kleinen Kapelle, es waren so viele Menschen, dass nicht alle in die Kapelle passten.

Wie lief die Beisetzung für dich ab?

Ich ging zunächst zum Grab meiner Oma und bat darum, dass sie auf meinen kleinen Cousin gut aufpasst. Danach fragte mich der Trauerredner, ob ich ihm nicht kurz in die Kapelle folgen möchte, um zu sehen, wo ich reden werde. Ich war die Erste, die die Urne meines Cousins gesehen hat. Als mein Onkel ankam, nahm mein Vater ihn in den Arm und lief den Weg mit ihm zur Kapelle, die Familie folgte. Die Menschen formten einen Gang für uns. Wir hielten inne auf den Stufen hoch, die Türen öffneten sich und wir setzten uns in die ersten Reihen. Ich saß links am Gang, neben mir meine Stiefmama.

Nach einführenden Worten durfte ich meine Rede halten.  Es war herzzerreißend. Nach der Zeremonie trug der Urnenträger die Urne an uns vorbei hin zu seinem Grab. Wir folgten ihm direkt. Hinter uns bildete sich eine Schlange aus über 100 Menschen. Wir alle hatten dann Zeit uns am Grab zu verabschieden. Wir als Familie legten ihm sein liebstes Spielzeug in das Grab. Als alle Menschen gegangen waren, wir kurz davor waren zum Restaurant zu fahren, da stand die Familie vor dem Friedhof und alle rauchten jeweils eine Zigarette zusammen.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Zunächst war die Trauer erdrückend. Jedoch waren Wut und Schuldgefühle viel präsenter und tobten in mir. Der Hass auf meine Tante überwog zunächst die Trauer um meinen Cousin. Meine Freund:innen und meine Familie waren bemüht und besorgt, tänzelten um mich herum, wussten oftmals nicht, wie sie mit mir umgehen können. Ich selbst war auch mit mir überfordert. Aber ich hatte feste Stützen, die mich ablenkten und mich in ihrer Welt eintauchen ließen.

Ich suchte mir Therapie und hatte Glück aufgrund der Tragik meines Traumas relativ schnell einen Ersttermin zu erhalten. Aber da es inhaltlich dort anfänglich um viel mehr ging als nur um die Ermordung, suchte ich mir nebenbei noch eine Trauerbegleiterin, die sich mit mir darauf fokussierte.

Was hat sich durch den Verlust für dich geändert?

In jener Zeit verlor ich Freund:innen und eine Beziehung. Das war schmerzhaft, jedoch nötig für meine Entwicklung. Ich fühlte mich nicht mehr wie „davor“. Mir wurde bewusst, wie sehr ein Tag ein Leben in ein Davor und Danach spalten kann. Ich überdachte mein gesamtes Leben. Setzte zunächst alles auf Stillstand, war arbeiten, legte aber die Bachelorarbeit zur Seite.

Meine beste Freundin betitelte es einmal wie folgt: „Du bist in einer außergewöhnlichen Situation, du hast die Möglichkeit dir Neues aufzubauen und dein Leben zu verändern.“ Und es veränderten sich Werte und Blickwinkel auf die Welt. Ich veränderte mich, war danach allein auf Reisen, versuchte zu mir zu finden, unter ständiger Begleitung von Therapie. Die Phase war schwer, fühlte sich oft einsam an, jedoch gewann ich dank der Gefühlsarbeit eine Nähe zu mir, die ich noch nie so verspürt habe.

Dennoch gab es auch Rückschläge und Entwicklungen, die negativ waren. Ich wurde depressiver, ängstlicher und mein Weltbild trübte sich. Meine Tante kam nach fünf Monaten frei und lebt bis heute ohne Strafe. Doch besonders wegen der Dunkelheit in meinem Leben ist Therapie eines der größten Lichtblicke, die es gibt. Denn dort lerne ich, mit diesem Trauma umzugehen.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Ich glaube nicht, dass Trauer ein Wald ist, der beim Durchqueren dunkel und kühl ist, aus dem man jedoch wieder herauskommt und hinter sich lässt – so ist das nicht. Trauer ist wie eine zweite Haut, die man sich anzieht. Zu Beginn schmerzt es sie zu tragen, man will sie abstoßen. Doch irgendwann darf man anerkennen, dass sie zu einem gehört. Und es tut auch immer noch weh, das darf so sein, aber in Trauer kann auch etwas Warmes sein.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Es benötigt professionelle Hilfe, ein gutes Umfeld und eigene Willensstärke, sich der Dunkelheit entgegenzusetzen, aber es kann funktionieren. Trauer hat mich gelehrt, anders mit meinen Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen umzugehen. Ich empfinde positive Gefühle wie Freude heute ganz anders, denn auch diese sind durch Trauer geprägt – und lasst mich es hier einmal auch ausschreiben: Freude und Trauer können und dürfen co-existieren und gemeinsam gefühlt werden.

Es ist viel Arbeit mit der Trauer. Und Rückschläge sind ganz normal. Nehmt es niemals zu ernst mit euch selbst, gebt euch Raum und Zeit. Apropos Zeit: Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt uns nur mit dem Unbegreiflichen umzugehen.

Ein besonderer Tipp: Kinderbücher zum Thema Trauer und Tod. Manchmal müssen auch Erwachsene die bunten Seiten des Todes aus Kindesaugen sehen, um neue Kraft und neuen Mut zu sammeln.

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