Ingrid

Ingrid

Erzähle von Ingrid. Wie habt ihr euch kennengelernt?

Ingrid und ich waren 42 Jahre verheiratet. Kennengelernt haben wir uns 1978 in der Bibliothek der Uni, wo sie als Bibliothekarin arbeitete und ich als junger Dozent für Mathematik. Sie half mir, Fachliteratur zu finden, und nach mehreren „zufälligen“ Besuchen meinerseits lud ich sie zum Kaffee ein. Sie war diese warmherzige, pragmatische Frau, die mich aus meiner akademischen Kopfwelt auf den Boden der Tatsachen holte.

Wann hast du erste Veränderungen an ihr bemerkt?

Die ersten Anzeichen kamen schleichend. Ingrid war immer so organisiert gewesen, hatte den Überblick über alles. 2018, sie war gerade 65 geworden, begann sie Termine zu vergessen. Nichts Dramatisches zunächst – ein verpasster Friseurtermin, eine doppelt bezahlte Rechnung. Sie schob es auf den Ruhestand, meinte, ohne feste Struktur komme sie durcheinander.

Dann fing sie an, Geschichten zu wiederholen. Mehrmals am Tag erzählte sie von früher, von ihrer Zeit in der Bibliothek. Das war nicht wie sie. Sie war immer eine gute Zuhörerin gewesen, interessierte sich für die Gegenwart. Als sie eines Tages den Weg zum Supermarkt vergaß, in den sie seit 30 Jahren ging, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

Wie war der Weg zur Diagnose?

Der Gang zum Neurologen war ein Kampf. Ingrid wehrte sich, meinte, sie sei nur müde. Der Arzt machte Tests, stellte Fragen. Ingrid wurde immer nervöser, aggressiver – so kannte ich sie gar nicht. Die Diagnose war wie ein Schlag: Alzheimer-Demenz, noch im Anfangsstadium.

Auf dem Heimweg weinte sie zum ersten Mal. „Ich will nicht vergessen werden“, sagte sie immer wieder. Ich versprach ihr, dass ich sie nie vergessen würde. Dass wir das zusammen durchstehen. Damals ahnte ich nicht, wie schwer dieses Versprechen werden würde.

Wie veränderte sich euer Leben nach der Diagnose?

Die ersten Monate versuchten wir, normal weiterzuleben. Ingrid machte Listen, klebte Zettel an alle Schränke. Ich übernahm nach und nach die Haushaltsführung, die Finanzen. Sie wurde immer stiller, unsicherer. Manchmal saß sie stundenlang vor dem Fenster und starrte in den Garten.

Nachts wurde sie unruhig, wanderte durch die Wohnung. Einmal fand ich sie um drei Uhr morgens in der Küche, wie sie versuchte, einen Kuchen zu backen. „Die Kinder kommen doch zum Kaffee“, sagte sie – dabei waren unsere Kinder längst erwachsen und lebten nicht mehr in der Stadt.

Wie ging es dir in dieser Zeit?

Die Rolle als pflegender Ehemann war schwer. Nach 40 Jahren Ehe musste ich plötzlich Entscheidungen alleine treffen. Ingrid, die früher alles organisiert hatte, brauchte jetzt Hilfe beim Anziehen, beim Essen. Ich lernte, geduldiger zu sein, auch wenn sie dieselbe Frage zum zwanzigsten Mal stellte.

Am schwersten war es, wenn sie mich nicht erkannte. „Wann kommt Herbert?“, fragte sie dann, während ich neben ihr saß. Oder sie hielt mich für ihren Vater, wurde wieder zum kleinen Mädchen. In solchen Momenten fühlte ich mich so einsam, obwohl sie direkt neben mir war.

Wie war der Alltag mit der Krankheit?

Jeder Tag brachte neue Herausforderungen. Morgens wusste ich nie, welche Ingrid ich antreffen würde – meine Frau von früher, die noch Momente der Klarheit hatte? Das verängstigte Kind, das seine Mutter suchte? Oder die verwirrte Frau, die glaubte, zur Arbeit in die Bibliothek zu müssen?

Ich entwickelte Routinen, lernte ihre verschiedenen „Versionen“ zu akzeptieren. Wenn sie von früher sprach, hörte ich zu, auch wenn ich die Geschichten schon hundertmal gehört hatte. Wenn sie aggressiv wurde, weil sie die Situation nicht verstand, versuchte ich ruhig zu bleiben. Am schönsten waren die seltenen Momente, in denen sie ganz sie selbst war und mich anlächelte wie früher.

Hattest du Unterstützung in dieser Zeit?

Unsere Kinder halfen, so gut sie konnten, aber sie hatten eigene Familien, eigene Leben. Ich ging zu einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Demenzpatienten. Dort traf ich andere, die Ähnliches durchmachten. Wir sprachen über unsere Schuldgefühle, unsere Erschöpfung, aber auch über die kleinen Glücksmomente.

Nach zwei Jahren wurde die Pflege zu schwer. Ich war selbst nicht mehr der Jüngste, und Ingrid brauchte rund um die Uhr Betreuung. Die Entscheidung für das Pflegeheim war die schwerste meines Lebens. Ich fühlte mich wie ein Verräter, obwohl ich wusste, dass es das Beste für uns beide war.

Wie war die Zeit im Pflegeheim?

Ich besuchte sie jeden Tag, saß stundenlang an ihrem Bett. Manchmal erkannte sie mich, manchmal nicht. Die Pfleger waren wunderbar, aber es brach mir das Herz zu sehen, wie wenig von meiner lebhaften, klugen Ingrid noch übrig war.

Sie sprach kaum noch, aber wenn ich ihr aus ihren alten Lieblingsbüchern vorlas, schien sie manchmal zu lauschen. Ich brachte Fotos mit, erzählte von unseren Kindern, den Enkeln. Ab und zu huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als würde eine Erinnerung aufblitzen.

Wie waren die letzten Tage?

In den letzten Wochen wurde sie immer schwächer, verweigerte das Essen. Die Ärzte sagten, das sei normal bei fortgeschrittener Demenz. An ihrem letzten Tag hatte sie einen ungewöhnlich klaren Moment. Sie sah mich an, drückte meine Hand und sagte meinen Namen – zum ersten Mal seit Monaten. Am nächsten Morgen schlief sie friedlich ein.

Wie hast du dich nach ihrem Tod gefühlt?

Die Gefühle nach ihrem Tod waren kompliziert. Da war natürlich tiefe Trauer, aber auch eine Art Erleichterung – und dann Schuldgefühle wegen dieser Erleichterung. In gewisser Weise hatte ich ja schon Jahre um sie getrauert, hatte mich Stück für Stück von ihr verabschieden müssen.

Der erste „richtige“ Abschied war, als sie mich nicht mehr erkannte. Der zweite, als sie ins Heim musste. Ihr Tod war wie ein dritter Abschied – endgültig diesmal, aber irgendwie auch versöhnlich. Sie musste nicht mehr leiden, nicht mehr verwirrt sein.

Wie waren die ersten Wochen nach ihrem Tod?

Die ersten Wochen waren seltsam leer. Keine Besuche im Heim mehr, keine Organisation von Pflege und Medikamenten. Ich hatte fast vergessen, wie Stille sich anfühlt. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich zum Telefon griff, um im Heim anzurufen – aus Gewohnheit.

Das Aufräumen ihrer Sachen war schwer. Ich fand ihre alten Notizbücher aus der Bibliothek, perfekt geordnet wie früher. Ihre Handschrift darin – klar, ordentlich, so anders als ihre verworrenen letzten Notizen. Es war, als würde ich zwei verschiedene Frauen verabschieden.

Was hat dir geholfen, mit der Trauer umzugehen?

Ich begann, ein Tagebuch zu schreiben. Nicht nur über die Trauer, sondern auch über unser gemeinsames Leben vor der Krankheit. Die schönen Momente, die lustigen Geschichten. Es half mir, mich an die „echte“ Ingrid zu erinnern, nicht nur an die kranke Frau der letzten Jahre.

Die Selbsthilfegruppe war weiter eine große Stütze. Dort verstand man diese besondere Art von Trauer – den langen Abschied, die verschiedenen Verluste, die Schuldgefühle. Wir sprachen darüber, wie man die Person in Erinnerung behält, die sie vor der Krankheit war, ohne die schwere Zeit zu verdrängen.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Heute, eineinhalb Jahre nach ihrem Tod, kann ich dankbar auf unsere gemeinsame Zeit zurückblicken. Die Krankheit war nur ein kleiner Teil unserer Geschichte, auch wenn er am Ende so viel Raum einnahm. In meiner Erinnerung ist sie wieder die lebhafte Bibliothekarin, die mich damals mit ihrer warmherzigen Art verzauberte.

Ich habe gelernt, dass Liebe sich wandeln kann. In den Jahren ihrer Krankheit liebte ich sie anders als früher, aber nicht weniger. Jetzt, nach ihrem Tod, wandelt sich diese Liebe wieder – in kostbare Erinnerungen, in Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit.

Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?

Aus dieser schweren Zeit habe ich vor allem gelernt, dass der Abschied bei Demenz lange vor dem eigentlichen Tod beginnt. Man muss sich von der geliebten Person in mehreren Etappen verabschieden, und das bringt Schuldgefühle mit sich, die völlig normal sind, aber nicht hilfreich.

Wichtig ist es, auch auf sich selbst zu achten und Unterstützung anzunehmen – das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Selbst in den schwersten Zeiten gibt es immer wieder schöne Momente, die man festhalten sollte. Und ganz wesentlich ist es, die Person vor der Krankheit nicht zu vergessen, sondern sie in lebendiger Erinnerung zu behalten.

Was möchtest du anderen Menschen in ähnlichen Situationen mitgeben?

Anderen Menschen, die Ähnliches durchmachen, möchte ich vor allem raten, sich Zeit für den mehrfachen Abschied zu nehmen und nicht zu erwarten, dass alles perfekt läuft. Es ist hilfreich, sich Unterstützung zu suchen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, die verstehen, was man durchmacht. Man sollte sich selbst vergeben, wenn nicht alles gelingt, wie man es sich vorgestellt hat. Die schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit vor der Krankheit sollten bewahrt und gepflegt werden.

Und am wichtigsten: Die Liebe sollte größer sein als die Krankheit – sie trägt durch die schweren Zeiten und bleibt bestehen, auch wenn sich ihre Form verändert.

In meinem Arbeitszimmer steht noch immer Ingrids alte Bibliotheksbrille. Manchmal setze ich sie auf, wenn ich in unseren Fotoalben blättere. Die Gläser sind nicht mehr ganz klar, aber durch sie sehe ich unsere Geschichte besonders deutlich – nicht nur das schwere Ende, sondern all die wunderbaren Jahre davor.

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