Zeynep

Zeynep

⚠️ TRIGGERWARNUNG ⚠️
In dieser Geschichte kommen die Themen Depressionen und Suizid vor. Wenn du dich nicht mit diesen Themen auseinandersetzen möchtest oder du das Gefühl hast, dieses Thema tut dir nicht gut, lies diese Geschichte bitte nicht.


Erzähle von Zeynep. Wie habt ihr euch kennengelernt?

Zeynep und ich kannten uns seit der Grundschule. Wir waren beide Töchter türkischer Einwanderer und teilten die besondere Erfahrung, in zwei Kulturen aufzuwachsen. Unsere Familien hatten unterschiedliche Ansätze – meine Eltern waren sehr liberal, Zeyneps Familie hielt stärker an Traditionen fest. Vielleicht verstanden wir uns deshalb so gut – wir beide schätzten sowohl unsere türkischen Wurzeln als auch unser Leben in Deutschland.

Wir teilten alles: die Geheimnisse unserer ersten Verliebtheiten, unsere Träume für die Zukunft, die Freude an besonderen Festen beider Kulturen. Nach dem Abitur studierte ich Jura, sie Medizin – wir wollten beide etwas bewirken. Zeynep war brillant, ehrgeizig und nach außen hin immer stark. Nur mir zeigte sie auch ihre nachdenkliche, verletzliche Seite.

Hast du Veränderungen an ihr bemerkt?

Im letzten Jahr ihres Studiums begann sie sich zu verändern. Die Prüfungen, der hohe Anspruch an sich selbst, der Wunsch, sowohl ihrer Familie als auch ihren eigenen Erwartungen gerecht zu werden – es wurde zu viel. Sie zog sich zurück, sagte immer öfter unsere Treffen ab. Wenn ich sie fragte, wie es ihr ging, lächelte sie nur und sagte „Mir geht’s okay, nur ein bisschen gestresst“.

Ich versuchte, sie zu überreden, sich professionelle Hilfe zu suchen. Aber psychische Belastungen offen anzusprechen, fiel ihr schwer – wie vielen Menschen verschiedener Herkunft. „Was, wenn es meiner Karriere schadet?“, fragte sie. „Eine angehende Ärztin, die selbst Unterstützung braucht?“ Sie suchte Kraft im Gebet und in den Traditionen ihrer Familie, aber die Gedanken ließen nicht nach.

Wie hast du von ihrem Tod erfahren?

Es war an einem Donnerstagmorgen. Ihre Mutter rief an, völlig aufgelöst. Zeynep hatte in der Nacht eine Überdosis Tabletten genommen. Sie hinterließ einen Brief – einen auf türkisch für ihre Familie, einen auf deutsch für mich. „Vergib mir“, stand am Ende.

Was waren deine ersten Gedanken? Wie hast du reagiert?

Mein erster Gedanke war: Das kann nicht sein. Zeynep war doch die Starke von uns beiden. Die, die für ihre kleine Schwester eintrat, als diese einen deutschen Freund haben wollte. Die, die sich für Gleichberechtigung einsetzte und trotzdem ihre kulturellen Wurzeln schätzte.

Ich fuhr sofort zu ihrer Familie. Das Haus war voller Menschen – Verwandte, Nachbarn, Freunde aus beiden Kulturkreisen kamen zusammen, um Trost zu spenden. Es herrschte eine bedrückte Stille. Bei einem Suizid wissen viele nicht, wie sie reagieren sollen – das gilt für Menschen aller Herkunft. Aus Scham und Unwissen wurde den Nachbarn gesagt, es sei ein plötzlicher Herzinfarkt gewesen.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung?

Die Tage bis zur Beerdigung waren geprägt von schwierigen Entscheidungen. Zeyneps Vater wollte erst, dass sie in der Türkei beigesetzt wird – aus Liebe zu ihr und den Traditionen der Familie. Ihre Schwester und ich setzten uns dafür ein, dass sie hier bleiben durfte – in der Stadt, die auch ihre Heimat war. Der Imam rang mit der Situation, aber Zeyneps Onkel, der in der Gemeinde geschätzt war, fand die richtigen Worte. „Gott ist barmherzig“, sagte er, „und Zeynep hat so viel Gutes getan.“

Die Beerdigung selbst wurde zu einem bewegenden Zusammenkommen verschiedener Welten. Deutsche Freunde fragten respektvoll nach den Gepflogenheiten. Die türkische Gemeinde zeigte ihre Solidarität. Ich half dabei zu vermitteln, genau wie Zeynep es immer getan hatte.

Was waren besonders schwere Momente?

Am schwersten war es, ihre kleine Schwester aufzufangen. Sie war wütend und verzweifelt – auf Zeynep, auf sich selbst, auf eine Gesellschaft, die psychische Probleme oft noch tabuisiert. „Hätte sie nur früher Hilfe gesucht“, schluchzte sie. Ich teilte ihre Verzweiflung und wusste gleichzeitig, dass es keine einfachen Antworten gab.

Auch die gut gemeinten, aber hilflosen Kommentare in der Gemeinde schmerzten. „Sie schien doch so stark“, hieß es, „wie konnte das passieren?“ Als ob Stärke gegen Depression schützen würde. Einige suchten Erklärungen in kulturellen Konflikten, andere in der modernen Gesellschaft – dabei war Zeyneps Leiden viel komplexer.

Wie waren die ersten Wochen und Monate danach?

Ich suchte Unterstützung bei Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. In einer interkulturellen Trauergruppe fand ich andere, die verstanden, was es bedeutet, zwischen verschiedenen Welten zu trauern und zu heilen.

Gleichzeitig begann ich vorsichtig, in unserer Gemeinde über seelische Gesundheit zu sprechen. Ich organisierte einen Vortrag in der Moschee über Stress und Belastungen bei jungen Menschen. Viele der älteren Frauen öffneten sich und erzählten von ihren eigenen Sorgen und „Herzschmerzen“. Es entstand ein wertvoller Dialog zwischen den Generationen.

Was hat dir geholfen, mit der Trauer umzugehen?

Zeyneps Tod wurde für mich zu einer Motivation, etwas zu verändern. Ich engagierte mich in einem Verein für kultursensible Beratung. Dort lernte ich Therapeuten verschiedener Herkunft kennen, die Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Welten des Verstehens und Heilens.

Ich begann ein Tagebuch zu schreiben und Briefe an Zeynep, erzählte ihr von den positiven Veränderungen, die ihr Leben und auch ihr Tod angestoßen hatten. Ich kochte ihre Lieblingsgerichte und teilte die Rezepte mit anderen – so blieb sie auf schöne Weise präsent.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Heute, zwei Jahre später, sehe ich Zeyneps Geschichte auch als Wendepunkt. In unserer Moschee gibt es jetzt eine Sozialberatung, die verschiedene kulturelle Perspektiven berücksichtigt. Zeyneps Schwester studiert Psychologie. Ihre Mutter, die früher Schwäche nicht zeigen wollte, ist aktiv in einer Selbsthilfegruppe für trauernde Eltern.

Die Trauer ist nicht verschwunden, aber sie hat sich gewandelt. Wenn ich mit Jugendlichen aus der Gemeinde spreche, erzähle ich von Zeynep – nicht nur, wie sie ging, sondern vor allem, wie sie lebte. Als Brückenbauerin zwischen Welten, stark und verletzlich zugleich, stolz auf ihre Herkunft und offen für neue Wege.

Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?

Seelischer Schmerz ist universell und betrifft Menschen aller Kulturen. Traditionen können sowohl Halt als auch Herausforderungen bedeuten, und es braucht Mut und Geduld, Tabus behutsam aufzubrechen. Ich habe gelernt, dass Veränderung oft durch persönliche Begegnungen geschieht und verschiedene kulturelle Ansätze sich ergänzen und bereichern können. Trauer und Heilung haben viele Gesichter – alle sind berechtigt.

Was würdest du anderen in einer ähnlichen Situation raten?

Sucht euch Unterstützung bei Menschen, die euch verstehen. Nutzt alle Ressourcen, die euch helfen – seien es moderne Therapien oder traditionelle Weisheiten. Respektiert Traditionen, aber lasst euch nicht von ihnen einschränken. Baut Brücken zwischen verschiedenen Unterstützungssystemen und seid geduldig mit Veränderungen – sowohl bei euch selbst als auch in eurer Gemeinschaft. Teilt eure Geschichte, wenn ihr bereit seid – sie kann anderen helfen.

Katja

Katja

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

Als ich vom Tod meiner Freundin Katja erfahren habe, war ich alleine Zuhause. An diesem Tag sind bei mir tatsächlich alle Schulstunden ausgefallen und ich konnte den Morgen ganz gemütlich angehen. Ich sehe mich noch im übergroßen Bademantel meines Vaters auf dem Sofa sitzen, als sich die Nachricht langsam über Facebook zu mir durchkämpfte.

Zunächst habe ich diese Nachrichten, dass Katja am vorherigen Abend plötzlich zu Tode gekommen war, nicht realisiert – sogar als dummes Gerede abgetan. Ich weiß noch, dass ich dachte „Was reden die da alle für einen Schwachsinn?“. Gleichzeitig machte sich ein seltsames Gefühl von Panik in mir breit, bis ich kurze Zeit später von einer Freundin angerufen wurde, die mir die schreckliche Neuigkeit bestätigte.

Was hast du in dem Moment gefühlt, als du es erfahren hast?

Die Worte, die mir am Hörer gesagt wurden, haben sich angefühlt als wären sie ausgedacht. Alles in dem Moment erschien mir einfach surreal. Ich habe schrecklich zu weinen angefangen. So ein Weinen, welches den ganzen Körper durchschüttelt. Bei dem man kaum mehr Luft bekommt. Dann lief ich die ganze Zeit in der Wohnung auf und ab, ehe ich die Kraft dazu hatte, meine Mutter auf der Arbeit anzurufen, damit sie nach Hause kommen soll.

Währenddessen rasten extrem viele Gedanken in meinem Kopf umher, vor allem was die Umstände des Todes anging, da Katja kerngesund war und kurz vor ihrem Abitur stand. Was ist passiert? Wieso stirbt ein junger Mensch so unerwartet? Wie kann das sein? Mein Kopf wollte direkt Antworten haben, damit ich mich an etwas festhalten konnte.

Erinnerst du dich noch an bestimmte Gedanken, die dir durch den Kopf gegangen sind?

Rückblickend klingt es extrem furchtbar, aber in den ersten Tagen habe ich immer wieder gedacht, wie unglaublich unfair ich es finde, dass mir und meinem Freundeskreis dieser Schicksalsschlag widerfährt. Ich habe mir so oft gewünscht, dass einfach jemand anders gestorben wäre. Ich hatte eine extreme Wut in mir; ich wusste wirklich nicht wohin mit diesen Gefühlen. Für mich war es deshalb einfacher, einen gewissen Unmut auf alles um mich herum zu schieben.

Ich habe mir wirklich gewünscht, dass der Tod anderen Leuten passiert, einem anderen Freundeskreis, dass man selbst einfach nicht so nah dran ist und jetzt mit diesem Erlebnis leben muss. Jetzt wo ich älter bin, finde ich meine Gefühle, die ich als 19-Jährige hatte, zwar berechtigt; heute würde ich aber ganz anders darauf reagieren. 

Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?

Mittlerweile weiß ich, dass wir alle irgendwann jemanden verlieren werden, der uns nah steht und der Tod zum Leben dazugehört. Dass er nicht immer nur fernab passiert, sondern ganz nah sein kann. Das Leben ist endlich und natürlich ist es gut, dass wir nicht jeden Tag darüber nachdenken, wie fragil unser oder das Leben anderer Personen ist. Aber: Sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir nur dieses eine Leben haben und wir es nutzen sollten, ist für mich heute wichtiger denn je und eine der größten Lektionen, die ich in meinem noch recht jungen Leben lernen durfte.

Nach Katjas Tod habe ich mich viel mehr aus meiner Komfortzone rausbewegt, Worte und Gefühle ausgesprochen, die ich sonst vielleicht für mich behalten hätte und für Dinge gekämpft, bevor ich es bereut hätte, es nicht getan zu haben. Da Katja ebenfalls jemand war, der schon in so jungen Jahren für sich selbst und andere einstand, rede ich mir bis heute ein, dass ich diese tolle Eigenschaft von ihr einfach in mir weiterleben lasse.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Katjas Beisetzung war einige Wochen nach ihrem Tod. Die Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen versinkt bei mir in ein schwarzes Loch. Meine Erinnerungen sind teilweise so verblasst, als hätte ich in der Zeit einfach nicht mehr existiert. Raum und Zeit verschwimmen bei mir in der ersten Trauerphase extrem ineinander.

Heute bin ich einerseits froh darüber, nicht mehr alle Details zu wissen, denn: Ich kann darauf vertrauen, dass mich mein eigener Körper in Extremsituationen schützt und ich manche Dinge einfach zu meinen Gunsten vergesse. Andererseits ist es merkwürdig zu wissen, dass man Tage oder sogar Wochen nicht mehr rekapitulieren kann, obwohl man in dieser Zeit extrem viel erlebt und durchlitten hat.

Der Tag der Bestattung – Wie hast du ihn erlebt?

Die Bestattung sehe ich, im Gegensatz zu vielem anderem, noch sehr lebendig vor Augen. Katjas Familie hatte eine große Trauerfeier auf die Beine gestellt; vor allem viele Freunde und Mitschüler sind zur Beerdigung gekommen, um Katja zu verabschieden. Mir bricht es bis heute das Herz, wenn ich daran denke, meine Freunde so verzweifelt zu sehen. Die Beerdigung an sich hat mir tatsächlich nicht den Anstoß dazu gegeben, den ersten Schritt des Verarbeitungsprozesses einzuleiten. Es war einfach viel zu unwirklich und nicht greifbar für mich.

So richtig realisieren konnte ich das erst, nachdem ich einige Monate später mein Abitur abgeschlossen und endlich Zeit für mich hatte, um alle Eindrücke zu verarbeiten. Die Trauer zu bewältigen, weiterhin in die Schule gehen, das Abitur halbwegs auf die Reihe bekommen – das alles irgendwie gleichzeitig zu bewältigen, war extrem anstrengend für mich. Ich brauchte dringend eine Auszeit und wollte erstmal nichts von Verpflichtungen wissen. Meine Freunde und ich waren alle noch so jung und der Tod kam einfach so plötzlich über uns alle herein, man wusste einfach nicht, wie man das Ganze durchstehen soll.

Gab es etwas, das dir geholfen hat?

Wertvoll an dieser Zeit war für mich vor allem, dass ich wusste, dass man mit seinem Schmerz nicht allein war. Ich habe Trost darin gefunden, dass wir alle im selben Boot sitzen und die Gedanken und Gefühle, die man durchlebt hat, mit unzähligen Leuten teilen konnte. Menschen, die einen wirklich verstanden haben, waren für mich ein Rettungsanker in einer Zeit, in der man wirklich dachte, man wird mit der nächstgrößeren Welle für immer fortgespült.

Eines kann ich aber ganz sicher sagen: Katjas Tod und alles, was danach kam, hat mir vor allem gezeigt, wie wichtig Freundschaften sind. Bis heute schweißt meine Freundinnen, die Katja am nächsten standen, und mich ein unsichtbares Band zusammen. Auf diese Menschen, das weiß ich, kann ich mich mein ganzes Leben lang verlassen.

Wie hat sich Trauer für dich angefühlt?

Ich glaube, das Gefühl von Trauer kann man erst so richtig nachempfinden, wenn man sie selbst erlebt hat. Es fällt mir sehr schwer, die passenden Worte zu finden, wenn ich an Trauer denke. Gerade weil ich weiß, dass das Gefühl nochmal von Fall zu Fall ganz unterschiedlich ausfallen kann.

Ich selbst habe mich gefühlt, als wäre ich von der Realität abgeschnitten worden. Alles ist dumpf, schwer, nicht greifbar. Man lebt plötzlich unter einer schweren Decke, während alles um einen herum weitergeht. Man selbst macht beim „normalen“ Leben aber nicht mehr mit.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Trauer ist und bleibt ein ständiger Prozess. Für mich hat die Trauerarbeit nie aufgehört, sie wechselt über die Jahre einfach nur ihre Intensität. Das erste Jahr war sehr hart. Die Wochen um den ersten Todestag von Katja herum waren rückblickend besonders schwer, weil ich das Gefühl hatte, mich überkommen dieselben lähmenden Gefühle, die ich damals in den ersten Wochen nach Katjas Tod gespürt hatte.

Nach fast 10 Jahren kann ich sagen, dass diese extreme Schwere, die mit dem Tod einhergeht, fortgegangen ist. Das gibt einem Hoffnung – auch für weitere Verluste. Man weiß nach einer gewissen Zeit einfach: „Ich habe jemanden verloren und ich vermisse diese Person und das Leben, was ich vor diesem Ereignis hatte. Aber ich überlebe es, ich werde es schaffen.“

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