TRAUERNDE ERZÄHLEN

Enwa

Enwa ist im Jahr 2017 nach einer längeren Krankheitsgeschichte verstorben. Hier erzählt ihr Sohn über seine Erfahrungen im Umgang mit dem Tod und der Trauer.

Wie hast du die Zeit erlebt, in der du wusstest, dass sie sterben wird?

Ich habe meine Mutter nicht nur die letzten 5 Monate ihres Lebens fast täglich besucht, sondern 4 Jahre jeden Tag auf diesem Weg, den sie nie wirklich akzeptieren wollte, begleitet – einige Silvester, Jahresübergänge und Skiurlaube ohne sie verbracht, und auch davor schon. Sie konnte einfach nicht mehr, aber manche Traditionen wurden dennoch auch auf anderen Wegen weitergeführt. Die Zeit bis zum Tod waren mit sehr vielen Besuchen verbunden, mit Geschichten vorlesen und erzählen. Darin war mein Vater um einiges besser als ich. Ich habe die Zeit einfach genutzt, da zu sein und Zeit zu haben (auch, wenn es schwer war und sich daran zurückzuerinnern immer wieder schwer ist). Der Tod stand nie im Vordergrund. Es gab nie das Ende, bis auf die letzten Wochen davor, wo es einfach nur noch ein Warten war.

Wie hast du sie in den letzten Stunden vor ihrem Tod begleitet?

Am Todestag selbst hatte ich Schule. Es war die erste Schulwoche nach den Ferien – eine neue Klasse, einige Altbekannte und sehr gute Freunde. Ich wollte nicht so viel verpassen und wollte nicht einfach fehlen. Und da wir vorher schon einen Zeitraum wussten, wann die Herzmaschine ausgestellt werden sollte, war das der einfachste Weg nicht zu viel darüber nachzudenken. In der großen Pause bin ich gegangen. Die ganze Familie traf sich und jeder hatte nochmal ein bisschen Zeit, sie zu besuchen und um Abschied zu nehmen.

Es war seltsam auf etwas zu warten, weil man wusste, dass es passiert und trotzdem surreal, als es auf einmal da war. Als es dann so weit war, sollte ich nicht mehr ins Zimmer rein. Ich wollte eigentlich, aber auch so war es schlimm genug. Ich habe draußen vor dem Zimmer mit meinem Opa gewartet. Er hat mir eine Geschichte vom kleinen Prinzen und dem Fuchs erzählt und über das Geben und Zurückgeben. Auch wenn ich sie nicht mehr zusammenbekomme, hat die Botschaft dahinter gezählt.

Entchen und Waldo, ein Stoffentchen und ein Bernhardinerstoffhund, je handgroß, haben immer die Geräte überwacht und bis zum Ende alles kontrolliert. Alle meine Stofftiere haben Namen, also brauchten die beiden auch einen. „Waldo und der Oberförster“ war das Lieblingspixiebuch meiner Mom und der Hund sah genauso aus. Und Entchen erklärt sich selbst. Stille. Piep. Piep. Piep. Das rote Alarmlicht leuchtet auf. Ein kurzer Schockmoment. Geht etwas schief? Doch was soll eigentlich schief gehen? Kurz später warteten wir dann (die Ärzte meinten, es könne Stunden und Tage dauern) und irgendwann ist es dann passiert. Stille. Kein Piepen mehr, kein monotoner Beat. Nichts.

Wie hast du die Zeit bis zur Bestattung erlebt?

Zwischen dem Todestag und der Bestattung lag eine Woche. Da wir es vorher wussten, war alles irgendwie schon geregelt und geplant. Einige letzte Dinge mussten noch organisiert werden, aber im Großen und Ganzen war es vorher schon vereinbart, wie es abläuft. Eine Woche später… In der Schule war ich in Gedanken woanders. Ich habe nicht komplett teilgenommen. Ich habe aber auch nicht gesagt, was los ist. Ich wollte einfach nur, dass es weitergeht.

Dienstag, 4 Tage später… In der Mittagspause gehe ich nach Hause. Ich habe Nachmittagsunterricht, aber das ist mir egal. Ich kann nicht mehr. Ich habe Hunger und mir ist schlecht. Es ist der Tag, an dem meine Klasse es erfährt – wie als hätte ich es gewusst. Ich hätte es gerne selbst gesagt oder miterlebt, aber ich weiß auch, dass es besser war, nicht anwesend zu sein. Ich habe von einer Freundin, die es vorher schon wusste, die Stimmung und Reaktionen bekommen. Ich hätte es gern miterlebt. Und doch ist es besser so.

Es war seltsam, die Tage danach in die Schule zu gehen und zu wissen, dass die anderen es wissen, auch wenn sie es lange nicht ganz wissen und nur einen Bruchteil des Ganzen. Ich wollte Normalität und die bekam ich größtenteils. Immer noch die Woche. Sie neigt sich dem Ende zu. Meine Abwesenheit ist nicht unbemerkt, aber auch verständlich. Ich gehe in der ersten Pause. Ein Klassenkamerad fragt, wieso. Es ist feige gewesen und ich würde es gern ändern, aber so 6 Jahre später auch etwas komisch, vor allem, weil es mittlerweile eh vergangen ist, aber ich konnte den Grund nicht sagen. Ich war nicht bereit dazu und habe einfach nur gesagt, dass es so ist. Er weiß wieso und trotzdem fühlt es sich falsch an, dass ich es nicht einfach sagen konnte.

Wie hast du den Tag der Bestattung in Erinnerung?

Es war der Tag der Beerdigung. Ich hatte anderes im Kopf als auch noch zu sagen, wieso ich gehen musste. Es war sonnig. Es gab einen Gottesdienst und einige Lieder, die sich meine Mom gewünscht hat. Anschließend gab es noch ein Beisammensein mit Kuchen. Es war ein komischer Tag und trotzdem sehr schön.

Abends hat es dann geregnet und es gab über dem Haus einen Regenbogen, gerade als wir dann nach Hause kamen. Eine Bestattung, welcher Art auch immer, gehört dazu und bildet einen Abschluss. Es war sehr emotional und ich hab es leid, dass alle sagen, dass es ihnen Leid tut. Denn auch, wenn es nicht einfach ist, weiß und wusste ich, dass es besser so ist.

Einige Tage später war im familiären Kreis die Beisetzung auf dem Friedhof. Es ist nicht einfach, an diesen Ort zu gehen und doch immer wieder schön. Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass die Verstorbene sich ihren Platz vorher selbst ausgesucht hat und eigentlich diesen Weg mit der Planung vorher, in der Nacht, in der sich alles änderte, bevor eine lange Zeit begann, bereits beschritten hatte.

Wie hast du die Zeit nach der Beerdigung wahrgenommen?

Die ersten 12 Monate danach… Das Leben geht weiter. Ein neuer Alltag beginnt und doch wird der alte fortgeführt. Man hatte knapp 5 Monate Zeit sich darauf vorzubereiten und doch ist es anders, wenn es dann endgültig so ist. Es musste sich neu einspielen und doch ging es weiter wie davor. Für mich war der Tag, an dem es passiert ist, wie eine Hölle. Ein Fluch, der nicht enden wollte. Es war seltsam, als diese Höllentage weniger wurden und dass sie nur noch punktuell auftreten, aber es ist auch schön.

Was hat dir in deiner Trauer geholfen?

Mir hat es geholfen, jeden Tag kleine Briefe zu schreiben und einfach von meinem Tag zu erzählen, aber genauso, einfach alleine zu sein. Trauer hat sich mit der Zeit gewandelt. Die Todestage haben sich gewandelt und jeder einzelne ist individuell verschieden. Himmel und Hölle zugleich. Trauer ist ein Prozess. Ähnlich wie Depressionen und doch komplett gegenteilig. Man entwickelt sich mit und lernt. Es gibt nie das Alter, in dem man bereit dafür ist, aber man lernt mit der Zeit, damit umzugehen.

Mir haben zudem kreative Trauergruppen mit anderen jugendlichen Trauernden geholfen. Ohne Worte, einfach kreativ austoben. Dann zunehmend Stück für Stück erzählen können, was passiert ist bis hin zu dem Punkt, dass man es erzählt, weil es wie die eigenen Narben ein Teil der Geschichte ist. Ich bin froh, es teilen zu dürfen, da es Teil des Verarbeitens ist und gleichzeitig die Angst nimmt, es zu vergessen je weiter die Zeit vergeht.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Doch eins weiß ich auch fast 6 Jahre später. Das Leben geht weiter und mit ihm die Trauer und endlose Verbindung. Und so stark auch andere Tage wiegen und der Ablenkung dienen, dieses Erlebnis wird immer präsent bleiben und nicht mit der Zeit vergehen, sondern jedes Jahr aufs Neue an gleicher Stelle stellen.

Die Angst des Vergessens gehört dazu, doch sie wird ersetzt durch das Erinnern. Gemeinsam statt einsam. Entchen und Waldo haben mich immer begleitet und mir zugehört. Sie haben mir geholfen, erst mal selbst es zu verarbeiten und ein kleines Zeichen von „ich bin da“ zu senden.

Wie waren die Reaktionen aus deinem Umfeld?

Meine Freunde und Klassenkameraden haben geholfen, da sie den Wunsch nach Normalität respektiert haben und trotz des Wissens es nicht in den Vordergrund gestellt haben. Mittlerweile kann ich zwar sagen, dass es den Freundeskreis davor und den danach gibt, aber es gibt auch ein paar wenige, die beide Seiten und Zeiten kennen, auch wenn sich so manche Wege trennen und getrennt haben. Nicht zwingend dadurch, aber sicherlich auch.

Die ganze Klasse hat eine Karte geschrieben, es gab einige stille Umarmungen und Zeichen von „wir sind da“, aber das Wichtigste war mir, einfach weiterzumachen wie davor und keinen Unterschied zu machen und ich bin sehr dankbar, dass dieser Weg meistens so geklappt hat.

Hast du auch Reaktionen von deinen Mitmenschen erlebt, die dich verletzt haben?

Ich habe auch manche Situationen mit unpassenden Bemerkungen gehabt, eine von meiner Pfarrerin, die selbst Seelsorgerin ist und irgendwo den Prozess durch meine Konfirmandenzeit kannte. Ich weiß, wie es gemeint war, aber sie kann nicht erwarten, dass ich 30 teils fremden Leuten einfach meine Geschichte erzähle, damit sie anfangen, etwas zu machen und ihren Glauben festigen.

Ich muss dazu sagen, dass ich seither nicht mehr so regelmäßig und oft in die Kirche gegangen bin, auch wenn ich nie streng gläubig war oder so, einfach, damit ich sie nicht mehr sehen musste. Mittlerweile sind neue Pfarrer da und ich bin auch darüber hinweg, aber vor allem, weil es am zweiten Todestag war, war das ziemlich unangebracht, dieses Ereignis zu neutralisieren und darüber hinwegzusehen. Und so gibt es nicht nur im Glauben und der Kirche immer wieder Momente der Rückschläge, Verletzbarkeit und der Trauer, sondern auch so im Alltag. Meistens, wenn irgendetwas einen daran erinnert oder man etwas damit verbindet.

Würdest du sagen, dass die Trauer verschwunden ist oder dass sie immer noch ein Teil deines Lebens ist?

Heute, 5 Jahre und 298 Tage später (zum Zeitpunkt, wenn ich das schreibe), kann ich sagen, dass es nie leichter, nur anders wird. Dass es Momente gibt, die bleiben, auch wenn Jahre vergehen und dass es die Erinnerungen an diese geliebten Menschen sind, die uns den Schmerz verspüren lassen.

Doch wenn ich eins sagen kann, dann, dass ich an diesem Weg gewachsen bin und schon viel gelernt habe und dies ein niemals endender Prozess sein wird. Kleines Eichhörnchen, bitte hör nie auf mich zu besuchen, denn du bist so viel stärker als du denkst und so viel mehr als du glaubst, auch wenn die Trauer manchmal meine Kraft raubt. Trauer verschwindet nie, sie verändert und entwickelt sich und doch bleibt sie ein Bestandteil, der niemals verschwinden wird.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Lerne, mit der Trauer umzugehen und sie zu teilen, denn gemeinsam trägt sie sich leichter. Erinnere dich an die schönen, gemeinsamen Momente und lebe für diese Person(en) weiter, denn sie würden nicht wollen, dass du dich in einer Höhle versteckst, während draußen das Leben wartet. Habt andere Leute um euch, die euch zuhören, auch wenn ihr einfach nur schweigt. Ihr seid mit eurer Trauer nie allein, doch mit dem Leben auch nicht. Daher gibt es und wird es immer wieder Rückschläge geben, Tage, an denen die Trauer stärker und präsenter ist, doch das ist kein Grund, das Leben nicht zu leben und erleben. Sei glücklich alle Tage lang!

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