Dominik

Storytelling Child

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

„Jetzt können wir Ihrem Sohn nicht mehr helfen. In 3 bis 4 Stunden wird er hirntot sein. Wie und wann er sterben wird, entscheiden Sie“, sagte die Oberärztin der Kinderintensivstation. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch. Den ersten meines Lebens. Ich schrie so laut, dass mir die Ohren wehtaten.

10 Minuten früher sah alles gut aus. Es ging sogar bergauf. Und nun das? Ich verstand die Welt nicht mehr. Da war so viel Wut, Schmerz, Traurigkeit und vor allem Hilflosigkeit. Ich konnte meinem Sohn nicht helfen, nur noch bei ihm sein und ihn in den Tod begleiten.

Ich hielt stundenlang sein Händchen, wog ihn in meinen Armen, streichelte und küsste ihn. Ich versuchte, diese innige Zeit zu genießen. Schließlich waren das die letzten Stunden, die ich mit ihm verbringen konnte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass er im Sterben lag und bald nicht mehr da sein wird. Ich habe ihn doch 9 Monate lang in meinem Bauch getragen und zu Hause alles für ihn vorbereitet. Ich kann doch unmöglich ohne ihn heimfahren.

Was hast du in dieser Zeit gefühlt oder gedacht?

Ich konnte nicht klar denken, stand unter Schock. Eine Krankenschwester schlug vor, noch Hand- und Fußabdrücke von Dominik als Erinnerung zu nehmen. Ich willigte ein. Auch der Taufe stimmte ich zu, obwohl ich all das zum „richtigen“ Zeitpunkt – später – machen wollte. Ein Später gab es aber für meinen Sohn nicht mehr.

Wie hast du ihn in den letzten Stunden vor seinem Tod begleitet?

Es war mir wichtig, die ganze Familie beisammensitzen zu haben, und so ließ ich meine Tochter, die damals 3 Jahre alt war, von meinen Schwiegereltern zur Kinderintensivstation bringen. Und dann saßen wir da: mein Mann mit meiner Tochter auf dem Schoss und ich mit Dominik im Arm. Ein Moment für die Ewigkeit! Könnte man die Zeit stoppen, wäre das der Augenblick gewesen.

Meine Tochter war so stolz, große Schwester zu sein. 5 Tage lang wartete sie, bis sie ihn sehen durfte. Es war ein Hallo und gleichzeitig auch Tschüss. Doch das wusste sie nicht. „Dominik ist so süß“, sagte sie und streichelte ihm sanft über den Kopf. Das war so schön! Leider verging unsere Zeit zu viert viel zu schnell. Meine Tochter musste wieder gehen. Eigentlich hätte sie gar nicht auf die Intensivstation gedurft. Aber in diesem Fall wurde eine Ausnahme genehmigt.

Dominik war ein Kämpfer. Er hielt länger durch, als die Ärzte glaubten, doch irgendwann schwanden seine Kräfte. Die Schwestern stellten nach und nach die Lautstärke an den Überwachungsgeräten der anderen zwei Kinder im Raum aus und dimmten das Licht. Mit diesen kleinen Veränderungen fühlte sich das Klinikzimmer gar nicht mehr so kalt an.

Was ging in den letzten Stunden vor seinem Tod in dir vor?

In den letzten Stunden wankte ich zwischen Hoffnung und Trauer. Ich hoffte auf ein Wunder, wünschte mir, dass irgendetwas passierte und noch alles gut wird. Doch die meiste Zeit weinte ich. Ich trauerte bereits um meinen Sohn, obwohl er warm und weich in meinem Arm lag.

Dann blieb sein Herzchen stehen. Ich wartete, dass es wieder anfing zu schlagen, aber das tat es nicht. Ich war plötzlich eine Sternenkind-Mama und brach zusammen. Da war all die Mutterliebe, die ich Dominik nun nicht mehr schenken konnte, und all der Schmerz, der in meiner Ohnmacht gefangen war. In meinem Buch beschreibe ich diesen Moment so: „Ich schwimme in einem Meer meiner Gefühle und drohe, gnadenlos unterzugehen.“ Ging ich unter? Zum Glück nicht. Mein Mann fing mich auf.

Wie hast du die Zeit bis zur Bestattung erlebt?

Dominik wurde am 3. Tag nach seinem Tod beerdigt. In unserem Bundesland dürfen Tote maximal 4 Tage gekühlt bis zur Beerdigung aufbewahrt werden. Und da wir Dominik weder obduzieren noch verbrennen lassen wollten, musste er innerhalb dieser Frist beerdigt werden. Grausam schnell, wie ich finde.

Die 2 Tage dazwischen erlebte ich wie in Trance. Zum einem, weil ich aufgrund des Not-Kaiserschnitts starke Schmerztabletten nahm, um alle Termine erledigen zu können. Zum anderen, weil ich es einfach nicht begreifen konnte, dass mein heiß geliebter Sohn so plötzlich verstorben war.

Dass das nicht oft vorkommt, merkte ich an den Reaktionen der Menschen, die ebenfalls überfordert waren, sobald ich ihnen von Dominiks Tod erzählte. Kollegen, enge Freunde oder Nachbarn. Selbst der Mitarbeiter des Bestattungsinstituts fragte ungläubig nach und musste schlucken, als er feststellte, dass er sich nicht verhört hatte.

Hast du alle Aufgaben allein erledigt oder hattest du Unterstützung?

Das Bestattungsinstitut übernahm den Großteil der Aufgaben. Sie beantragten die Sterbeurkunde, veranlassten die Überführung unseres Sohnes und koordinierten sogar die Termine mit unserer Pfarrerin. Einen Termin, um ihr unsere Geschichte zu erzählen, damit sie die Trauerrede vorbereiten konnte und einen Termin für die Beerdigung.

Außerdem gab es erste Gespräche mit meiner Hebamme, einer Seelsorgerin und dem Steinmetz. Bei allen Terminen war mein Mann dabei. Auch er hatte sein Kind verloren und trauerte. Gemeinsam stützten wir uns. Auch heute noch (6 Jahre später), wenn es hin und wieder wehtut.

Wie hast du den Tag der Bestattung in Erinnerung?

Am Tag der Bestattung blitzte morgens schon die Sonne hinterm Vorhang hervor. Sie wollte mich aus dem Bett locken. Erst freute ich mich über ihre warmen Strahlen, dann erinnerte ich mich: Mein Sohn ist tot und heute wird er beerdigt. Ich zog mir die Decke über den Kopf, wollte wieder einschlafen und wünschte mir, den Tag einfach zu verschlafen.

Würdest du sagen, die Bestattung war ein wichtiger Schritt für dich, um Abschied zu nehmen?

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht im Bett liegen geblieben bin, denn die Bestattung war sehr wichtig für mich und meine Trauerbewältigung. Die Sonne schien den ganzen Tag. Kurz bevor die Pfarrerin eintraf, zeigte das Thermometer 28° Celsius an, Ende September. Um meinen Sohn ein letztes Mal zu sehen und mich zu verabschieden, zog ich dennoch eine Jacke über. Die Aufbahrungsräume sind doch immer kühl. Auf dem Weg dorthin begleiteten mich gemischte Gefühle. Ich freute mich, meinen Sohn noch einmal sehen zu dürfen. Allerdings war es das letzte Mal.

Als die Tür aufging, war es wieder um mich geschehen. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit hatten mich voll im Griff. Da lag er, mein Dominik, mein Sohn, mein Bärchen. Er sah aus, als ob er schlief. War er wirklich tot? Ich streichelte und küsste ihn. Er war kalt. Eiskalt! Diese Kälte habe ich gebraucht, um zu begreifen, dass sein Tod endgültig ist. Er würde nicht mehr zurückkommen. Das war mir nun klar.

Was ist dir an der Bestattung positiv in Erinnerung geblieben?

Die Trauerrede war wunderschön. Die Pfarrerin bezog wichtige Details aus Dominiks Geschichte sowie unsere Tochter und ihre Taufe mit ein. Es fühlte sich gut an, auch wenn es gleichzeitig schrecklich wehtat. Und immerzu schien die Sonne. Ihre Strahlen drangen sogar durch die bunten Mosaikfenster hindurch, sodass sich faszinierende Farbspiele auf dem Boden ergaben. Dominik hätte das bestimmt gefallen.

Das Abschiednehmen am Grab war sehr schwer. Das war der allerletzte gemeinsame Weg. Nach dem Fallenlassen der Rose und dem Hinunterrieseln der Erde fing ein neues Kapitel meines Lebens an. Das Leben danach.

Wie hast du die Zeit nach der Beerdigung wahrgenommen?

In den ersten Tagen nach der Beerdigung schwebte ich im Nirgendwo. Täglich begrüßten mich die Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ungläubigkeit. Das Leben zog an mir vorbei und ich konnte lediglich zuschauen. Ich fragte mich immer wieder: Wie soll ich nur ohne meinen Sohn weiterleben? Wie soll ich meine Trauer um ihn verarbeiten? Und kann ich je wieder glücklich werden?

Da waren all diese Gefühle und Gedanken, die ich zuvor nie gespürt habe. Sie kreisten permanent in meinen Kopf. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Ich fing an, alles aufzuschreiben. Ich versuchte, ein Muster zu erkennen. Meine Erkenntnis: Trauer folgt keinem Muster.

Gab es bestimmte Lichtblicke für dich in dieser Zeit?

Etwa 2 Monate nach dem Tod meines Sohnes begann der Rückbildungskurs, einer für verwaiste Mütter. Unsere Kinder waren alle verstorben, dennoch brauchten auch unsere Körper ein wenig Training. Einmal die Woche fand der Kurs statt und vor den Übungen gab es immer eine Gesprächsrunde. Wir sprachen über unsere Sternenkinder, unsere Trauer und vor allem darüber, wie wir den Alltag ohne unsere Babys bewältigten.

In dieser Runde fühlte ich mich wohl. Hier konnte ich offen reden. Die anderen wollten wirklich wissen, wie es mir geht. Sie waren an meinem Sohn genauso interessiert wie ich an ihren Kindern und ihren Geschichten. Niemand musste sich rechtfertigen. Diese Gruppe, die auch nach dem Ende des Kurses weiterhin bestehen blieb, war neben dem Schreiben meine größte Stütze.

Gab es emotionale Rückschläge? Sind sie in bestimmten Situationen aufgetreten und wie bist du damit umgegangen?

Hochschwangere in meiner direkten Nähe machten mir Angst, frischgeborene Babys konnte ich nicht sehen und die Meldung über schwere Geburten (obwohl am Ende alles gut ging) trafen mich jedes Mal mitten ins Herz. Erst schrieb ich alles nieder, dann besprach ich es mit meinen Mädels aus dem Kurs. Diese Strategie funktionierte gut für mich. Ich stellte mich herausfordernden Situationen, weil ich wusste, dass ich sie schaffen würde. Nur mit Konfrontation würde ich irgendwann wieder positiv nach vorne blicken können.

Ich übte also Alltag, ging wieder arbeiten und unternahm Ausflüge mit meiner Familie. Ich spürte das Leben und ab und zu schlichen sich Glücksgefühle ein. Ich war glücklich, die Zeit mit meinem Sohn gehabt zu haben. Ich durfte ihn kennenlernen, streicheln, küssen, liebhaben. Ich konnte ihn wickeln, ihn füttern und ihm vorsingen. Er war da und diese Zeit konnte mir niemand wegnehmen.

Das Gefühlschaos ging in die nächste Runde. Nach der akuten Phase des Nicht-Begreifen-Wollens habe ich seinen Tod akzeptiert. Nun schwankte ich zwischen den Welten: Ich trauerte der Vergangenheit mit meinem Sohn hinterher und freute mich gleichzeitig auf jeden neuen Tag, den ich weiterhin mit ihm im Herzen erleben durfte. Denn auch ich habe nur ein Leben und diese Not-OP lebend überstanden.

Wie waren die Reaktionen aus deinem Umfeld?

Einst gute Bekannte wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen. Bloß nicht mit der Frau reden, die ihr Kind beerdigen musste. Doch nicht alle Reaktionen waren derart extrem. Es gab auch einige Freunde und Bekannte, die zugaben, nicht mit unserem Schicksal umgehen zu können. Es blieb somit ruhig, aber ich wusste, woran ich bin. Das war mir immer noch lieber als komplette Stille. Umso mehr half mir das Schreiben. Ich konnte all meine Gedanken rauslassen, die kaum jemand hören wollte.

Je mehr Monate vergingen, desto mehr schwierige Situationen bewältigte ich. Mit jeder einzelnen setzte ich mich auseinander. Ich fand sogar nach und nach den Mut, Menschen, die mir verletzende Sprüche wie „Ihr seid doch noch jung. Bekommt ihr eben noch ein Kind“ oder „Wer weiß, wozu das gut war“ entgegenbrachten, aufzuklären. Anfangs noch unter Tränen, schließlich stellte ich mich jedes Mal meiner eigenen Trauer. Doch irgendwann voller Stolz, denn Dominik war ein toller Junge, der bis zum Ende kämpfte. Er kämpfte, damit ich ihn kennenlernen durfte.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Heute (6 Jahre später) bin ich wieder glücklich. Ich kann mein Leben ohne schlechtes Gewissen genießen. Immer mit Dominik im Herzen. Die Trauer wird nie ganz verschwinden. Besondere Tage wie sein Geburtstag, Todestag oder Weihnachten werden immer wehtun. Aber jedes Jahr ein bisschen weniger.

Was hat dir geholfen, die Trauer zu akzeptieren?

Dominik schenkt mir häufig ein Lächeln – immer, wenn die Sonne scheint. Situationen wie diese haben mir geholfen, meine Trauer zu akzeptieren. Nur weil mein Sohn tot ist, heißt es nicht, dass er aus meinem Leben verschwunden ist. Er hat einfach einen anderen Platz eingenommen. Er ist und bleibt für immer in meinem Herzen und er hat mich gelehrt, was wichtig im Leben ist: Liebe, Familie und Gesundheit. Ich bin sehr dankbar, dass ich seine Mama sein darf.

Was hat dir geholfen, wieder eine Perspektive im Leben zu finden?

Mein Leben hat sich nicht grundlegend verändert, dennoch habe ich mich intensiv mit den Themen Tod, Trauer und Kindsverlust auseinandergesetzt. Ich habe ein Sternenkind-Buch veröffentlicht. Ich erzähle nicht nur meine und Dominiks Geschichte, sondern beschreibe, was ich gefühlt habe – beim Kinderwunsch, der Geburt, den 5 Tagen zwischen Hoffen und Bangen, dem Tod und dem „Leben danach“. Ich möchte Betroffenen Mut machen und ihnen zeigen, dass man wieder positiv in die Zukunft schauen kann, auch wenn einem so etwas Furchtbares passiert ist. Und ich möchte Nicht-Betroffenen zeigen, was sie tun können, um Betroffenen zu helfen. Denn auch sie fühlen sich oft hilflos.

Ich bin außerdem Teil des Sternenbands, dem Erkennungszeichen für Sterneneltern, und engagiere mich im Verein „Unsere Sternenkinder Rhein Main e.V.“. Andere Betroffene in ihrer Trauer zu unterstützen, hilft ungemein.

Hast du einen Rat für jemanden, der gerade eine ähnliche Situation durchlebt?

Mein Rat an jeden Menschen da draußen: Lass die Trauer zu. Als Betroffene aber auch als Nicht-Betroffene. #gemeinsammehrerreichen

Lio

Storytelling Child

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

Es war der 16.09.2020 – ich wachte auf als der Wecker klingelte um meinen Großen für die Schule zu wecken. Am Handy eine neue Nachricht von meiner Mama, ihr Papa ist soeben verstorben. Mein Opa ist friedlich eingeschlafen.

Wir haben uns schon alle von ihm verabschiedet und doch war es hart. Ich stand auf, führte Telefonate, kümmerte mich um Babysitter, verabschiedete den Großen. Kurze Zeit später stand meine Tochter auf, ich sagte noch zu ihr, dass ich nun meinen Kaffee austrinke und dann wecken wir Lio bevor ich sie für den Kindergarten fertig machen würde.

Es war 7.17 Uhr, ich möchte ihn wecken – er bewegte sich nicht. Ich nahm in hoch und rannte ins Wohnzimmer zum Handy und setzte den Notruf ab, unter Anleitung und vor den Augen meiner 4-jährigen Tochter begann ich mit der Reanimation. Kurze Zeit später kamen die Sanitäter und der Notarzt, ich bin mit meiner Tochter aus der Wohnung gestürmt um sie zu den Vermietern hoch zu bringen. Als ich wieder runter in die Wohnung kam, schüttelten die Helfer schon den Kopf: Es war zu spät.

Was ist unmittelbar nach seinem Tod passiert?

Ich weiß noch, dass ich telefoniert habe, mit meiner Mama und meinem Mann… Ich habe organisiert wer meinen Großen von der Schule und meinen Mann von der Arbeit holt. Irgendwann war der ganze Hof voll, alle unsere Freunde und Familie waren da. Es kam das Kriseninterventionsteam, die Polizei und die Kripo… Man kommt sich vor wie ein Verbrecher, darf seine Wohnung nicht mehr betreten. Aber es gibt halt leider auch Menschen die ihren Kindern böses tun, im Nachhinein versteht man wieso so gehandelt wird.

Gab es zuvor Anzeichen für seinen Tod?

Lio war in der Nacht zuvor kränklich, nichts was wir nicht schon gekannt hätten, er hatte von Anfang an mit Bronchitis zu kämpfen. Und doch hätte ich nie gedacht, dass er uns genommen wird.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Die erste Zeit erlebt man wie in Watte gehüllt. Man versteht die Welt nicht mehr und auch heute ist es immer noch unverständlich.

Was hat euch in dieser schweren Zeit geholfen?

Unsere Familie und Freunde waren uns in dieser Zeit die größte Stütze. Lio’s Pateneltern kümmerten sich um alles was mit der Bestattung zu tun hatte. Sie suchten seinen Sarg aus und nahmen uns einfach alles ab so gut es ging.

Wir sind so dankbar um unser soziales Netzwerk. Ich kann nur an jeden appellieren: Wenn so etwas Unglaubliches in eurer Familie oder in eurem Freundeskreis passiert, seid einfach nur da. Lasst die Eltern nicht allein!

Der Tag der Bestattung – wie hast du ihn erlebt?

Es war ein sonniger Tag im September. Nur die wichtigsten Menschen ließen wir teilnehmen. Die Sängerin spielte so wunderschön für unseren Sonnenschein, wir ließen Lio Luftballons in den Himmel steigen an denen Schnuller hingen – wir wissen ja nicht ob er dort oben jemanden hat der ihm immer stundenlang Schnuller suchen kann, so wie wir, und nun hat er unendlich viele. Zu deinem Lieblingslied „Dance Monkey“ wippten wir alle mit, so wie unser Lio zu Lebzeiten.

Richtig realisieren konnte man es auch am Tag der Beerdigung nicht, aber was uns wieder besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Unterstützung von unserer Familie und unseren Freunden.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Ich fühlte mich vom ersten Moment an leer. Weinen fiel mir ganz schwer, ich wehrte mich richtig dagegen, ich hatte immer das Gefühl wenn ich es zulasse, dann wird es zur Realität, dann ist es wirklich so dass mein kleiner Wirbelwind nicht mehr da ist. Ich weiß, dass das total irrsinnig ist, aber Trauer hat einfach viele Gesichter.

Was hat dich in dieser Zeit angetrieben, was hat euch Halt gegeben?

Ich versuchte und versuche noch immer so gut es geht für meine Familie eine Stütze zu sein. Meine 2 Kinder an der Hand geben mir so viel Kraft. Wir sind seitdem in psychologischer Behandlung und auch diese Gespräche helfen ungemein.

Mein Antrieb mich nicht gehen zu lassen ist immer der Gedanke, dass meine Kinder mich lebensfroh kennen und ich keine verbitterte Frau werden möchte. Ich bin gebrochen, ja das bin ich, aber trotzdem möchte ich mein Himmelskind stolz machen, indem ich für ihn mitlebe, mitlache und mitliebe.

Gab es etwas, was besonders schlimm für dich war?

Wir wohnen auf einem Dorf und was da für Gerüchte kursierten ist wirklich gruselig. Traurig, dass man anstatt Mitgefühl zu haben noch immer nachtreten muss. Das ist auch der Grund weshalb ich oft ein schlechtes Gewissen habe wenn ich außer Haus lache, aus Angst was die Leute nun wieder über mich berichten… Doch sollten alle einfach nur froh sein nie so einen Schicksalsschlag erlebt zu haben. Unser Schmerz ist groß genug, das kann ich jedem versichern.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Da es bei uns erst 10 Monate her ist, ist die Trauer noch sehr frisch. Doch sie wird auch in 10 Jahren nicht vergangen sein, die Trauer ist von nun an unser täglicher Begleiter.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Lass dich tragen von deiner Familie und deinen Freunden. Suche dir Hilfe von Psychologen, es hilft wirklich ungemein. Und lebe deine Trauer so wie du sie leben willst, egal wie andere über dich urteilen.

Frédéric

Storytelling Child

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

Um die Situation zu beschreiben, in der ich war, als ich von Frédérics Tod erfahren habe, muss ich etwas ausholen: Frédéric war im September 2014 nach San Francisco gereist, um dort bei einem Startup ein Praktikum zu machen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium in Nürnberg und Nancy (Frankreich) hatte er diese tolle Möglichkeit über eine ehemalige Mitschülerin erhalten. Eine Woche nach dem Interview mit dem Geschäftsführer, das er von unserem Sommerdomizil in Südfrankreich aus führte, saß er nach einem kurzen Stopp bei seinem Halbbruder in Paris im Flugzeug nach „SanFran“.

Frédéric war absolut begeistert von der Stadt, der Stimmung und der kollegialen Atmosphäre in dem Startup. Diese belohnte gegen Ende des Jahres ihre Mitarbeiter durch einen Arbeitsaufenthalt in Punta Cana, einem Massenurlaubsort auf der karibischen Insel Santo Domingo. Dort arbeiteten sie morgens und am Nachmittag nutzten die Mitarbeiter die vielzähligen Unterhaltungsmöglichkeiten. Frédéric schrieb begeisterte Mails oder SMS.

Nachts bekam ich dann in Berlin den Anruf aus den USA: Frédéric war bei einem Bootsausflug mit einem Kopfsprung in nicht ausreichend tiefes Wasser in Strandnähe gesprungen und hat vier Halswirbel „stark gestaucht“. Der stellvertretende Geschäftsführer, der mich aus San Francisco anrief, meinte, es sei „ernst“, er müsse wahrscheinlich in die Hauptstadt Santo Domingo überführt und operiert werden und dazu bräuchten sie meine Einwilligung, vor allem die Garantie der Übernahme der Krankenkasse. Es folgten massenweise administrative Aufgaben am frühen Morgen für mich, Formulare, die mir gemailt wurden ausdrucken und unterschreiben, die Versicherung kontaktieren. Ich fühlte mich sicher, dass alles gut laufen würde, wir waren gut versichert und ich bereit, alle notwendigen Informationen zeitnah zu liefern.

Ist dir an diesem Tag etwas besonders in Erinnerung geblieben?

Ich mache hier mal einen „Ausflug“ in die Welt der Versicherungen, von denen man sich ja immer irgendwie „beschützt und abgesichert“ fühlt. Um ein Praktikum in den USA zu machen, hatte Frédéric obligatorischer Weise eine recht teure „all round“ Versicherung abgeschlossen, die natürlich ärztliche Versorgung sowie Krankenhausbehandlungen einschloss. Diese Versicherungen haben aber Klauseln, u.a. in Bezug auf Betreuung und Rückführung. Diese Versicherungsfragen wurden leider in den Umständen in denen Frédéric verunglückt und gestorben ist, zum roten Faden aller daraus folgenden Handlungen.

Er befand sich, als er verunglückte, in einem Entwicklungsland mit mäßiger Gesundheitsversorgung. Da ein amerikanischer Arzt in seinem Team war, stellte sich von Anfang an die Frage, ob man ihn nicht von Punta Cana aus direkt nach Florida transportieren sollte, wo er eine optimalere ärztliche Behandlung bekommen würde (oder bekommen hätte) und diese Fragen wurden IMMER von der Versicherungsgesellschaft beantwortet.

Dass die Versicherungsgesellschaft immer mit im Boot saß, bekamen wir ständig zu spüren: sie entschied wo und wie Frédéric medizinisch versorgt würde, ob und wann er nach Deutschland überführt werde, bis hin wie und wann er beerdigt werden könne, welcher Sarg durch die Versicherung „abgedeckt“ war. Auch in Deutschland können solche Umstände auftreten. Ich habe im Nachhinein von vielen organisatorischen Ungereimtheiten nach Unfällen oder Katastrophen oder auch Kunstfehlern gehört und die Konsequenzen der Versicherungen daraus sind oft nebulös.

Wie hast du von dem Tod erfahren?

Die von der Versicherung eingesetzte Fluggesellschaft, die Frédéric als schwer Verletzten rückführte, informierte mich von Deutschland aus über seinen Tod im Himmel über Kanada. Zu diesem Zeitpunkt war ich in Punta Cana, in der Nähe von dem Ort wo Frédéric verunglückt war. Es war mir nicht erlaubt worden mitzufliegen, da im Flugzeug neben den lebenserhaltenden Instrumenten, einem Intensivpfleger und zwei Piloten kein Platz für eine zusätzliche Passagierin war. Schweren Herzens hatte ich ihn in der Nacht im Krankenhaus verabschiedet.

Der Anruf, dass Frédéric im Himmel von Kanada gestorben war, erreichte mich in dem Hotelzimmer, in dem ich mich vor dem langen Rückflug ein wenig ausruhen sollte. Mein Handy klingelte in dem gleichen Moment, in dem mir das Hotelzimmer aufgeschlossen wurde. Ich sah, dass der Anruf aus Deutschland und drückte ihn weg, hatte aber sofort das Gefühl, dass das nichts Gutes bedeutete. Kaum hatte ich mein Gepäck abgestellt klingelte es wieder.

„Es tut mir leid, dass…“

Ich hatte sofort begriffen – man begreift sofort, es ist verrückt: in keiner einzigen Sekunde seit dem Anruf in Berlin hatte ich daran gedacht, dass Frédéric an den Folgen seines Unfalls sterben könnte. In keiner einzigen Sekunde! Und dann dieser zweite Anruf – sofort war mir alles klar – es ist eine Katastrophe passiert.

Wie hast du dich in dem Moment gefühlt?

Wie ein allwissender Stein stürzte es auf mich herab: diese Nachricht wird Dein Leben verändern – dieser Anruf ist die Annonce einer Katastrophe – dieser Anruf ist ein Anruf, den niemand, absolut niemand im Leben verdient hat!

Und doch: es traf mich wie eine Bombe. Diesen Bombeneinschlag fühle ich noch bis heute. Mit jeder Nervenzelle meines Körpers. Diese Bombe schlug ein tiefes Loch in mein Herz. Mit diesem Loch im Herzen lebe ich bis heute.

Und was antwortet man auf die Todesnachricht des eignen Kindes? Ich antworte so, weil ich die ganze tonnenschwere Verantwortung, meinen schwer verletzen Sohn nach Deutschland rückführen zu lassen, ganz alleine trug, da ich als Einzige vor Ort war. Meine Reaktion war eine kristallklare, luzide Frage: Dr. Sowieso, habe ich meinen Sohn durch diesen Rücktransport umgebracht?

Ich trug diese Verantwortung alleine, da nur ich vor Ort war und zehn Tage mit den Ärzten und den Versicherungsvertretern verhandelt hatte, ob Frédéric rückführungstauglich sei. Keiner, weder die Ärzte noch die Gutachter der Versicherung konnten dies einschätzen, und schon gar nicht ich selbst. Aber es mussten eben rasch Entscheidungen getroffen werden, Entscheidungen, an denen Frédérics Leben hing.

Der bayrische Bereitschaftsarzt beruhigte mich zwar am Telefon mit seiner Antwort, indem er mir versicherte, dass sie Frédéric auf keinen Fall transportiert hätten, wären da irgendwelche Zweifel gewesen, dass er die lange Flugreise nicht überstehen wird. Aber Fragen blieben und bleiben offen, Schuldgefühle sind bis heute nicht loszuwerden.

Was hast du gemacht, nachdem du die Nachricht über den Tod erhalten hast?

Im Hotelzimmer schwankte der Boden unter meinen Füßen, als ich versuchte aufzustehen. Was macht man da so alleine? Wie hält man so etwas aus? Es kam kein Schrei aus meiner Brust, keine Tränen flossen – es war da nur ein unbeschreiblicher Schmerz in meinem Herzen, ein elendiger Druck in der Brust und das Gefühl, innerlich durchbohrt zu werden.

Ich rief Frédérics Vater, seine Brüder, meine beste Freundin und meine Mutter an. Obwohl es sich nach Ohnmacht anfühlte, war ich bei vollem Bewusstsein und die paar Stunden bis zu meinem Abflug nach Deutschland vergingen nur zäh und langsam. Das Touristenflugzeug war mit vielen jungen Menschen besetzt, die die Spätsaison genutzt hatten, um nochmal vor dem Winter in Deutschland Sonne zu tanken. Ausgerechnet neben jungen Männern, die in Frédérics Alter waren, wurde ich platziert.

Wie ist der Flug nach Hause abgelaufen?

Ich weiß nicht weshalb, aber noch vor dem Abflug kam eine Stewardess auf mich zu und fragte, ob etwas nicht stimmte. Ich glaube ich sagte ihr gerade heraus, dass ich vor ein paar Stunden erfahren hatte, dass mein 21-jähriger verletzter Sohn auf dem Rücktransport nach Deutschland gestorben war. Sie organisierte mir 2 freie Sitze in einer Fensterreihe, die sie eigentlich für die Crew reserviert hatte.

Sie blieb lange neben mir kniend, meine Hand haltend sitzen und erzählte mir von ihrem einzigen noch kleinen Kind und dass sie so oft denkt, was für ein Albtraum es sein müsse, ein Kind zu verlieren. Wie oft sollte ich den von mir inzwischen verhassten Satz noch hören müssen: „ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste was einem passieren kann“.

Warum ich diesen Satz hasse? Weil er kein Trost ist. Er bestätigt nur, was man ohnehin weiß und was man nicht auch noch immer wieder hören will. Es fühlt sich für mich so an, als würde ich, obwohl ich bereits zerstört auf dem Boden liege, nochmal nachgetreten bekommen. Damals empfand ich das noch nicht so. Ich war ja erst am Anfang der schwersten Reise meines Lebens.

Ich erinnere mich, dass die Stewardess lange neben mir kniete, ihren Dienst vernachlässigte, aber dafür Verständnis von ihren Kollegen bekam. An bestimmte Gedanken oder konkrete Dinge erinnere ich mich nicht. Ich glaube, ich stand unter Schock und wünschte mir nur eins: so schnell wie möglich zu Frédérics Brüdern zu kommen.

Was waren deine ersten Gedanken?

Erst sehr viel später ließ ich Gedanken und Fragen zu: „Wie ist er wohl in dieser fliegenden Intensivstation gestorben? Haben ihn seine Begleiter würdevoll verabschiedet?“

Ich weiß nur eines, sie haben alles getan, um ihn zu retten. Sie wussten , dass sie die Verantwortung für ein so junges Leben hatten und haben sich sicherlich hundertprozentig für ihn eingesetzt.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Die Tage nach meiner Ankunft in Berlin waren mit Organisation gefüllt. Zunächst hatten wir keine Ahnung, wohin Frédéric transportiert worden war. Der Heimatflughafen der Flugnotrettung war Nürnberg und der Pilot hatte nach Frédérics Versterben im Himmel von Kanada die Anordnung bekommen, nicht wie geplant in die Unfallklinik nach Berlin-Marzahn, sondern nach Hause zu fliegen. Über das, was dann passieren sollte wurden wir erst einmal nicht informiert.

Hast du dir die organisatorische Verantwortung geteilt?

Da ich mich fünf Jahre zuvor vom Vater von Frédéric getrennt hatte und mit ihm und seinen drei Brüdern ein recht eingespieltes Team geworden war, teilten wir uns die vielen anstehenden Aufgaben. Leider hatte ich im Frühjahr und im Sommer bereits zwei mir nahestehende Freundinnen beerdigt, sodass mir die Organisation der Beerdigung nicht so schwerfiel.

Frédéric, seine Brüder und auch wir, seine Eltern haben aus beruflichen Gründen einen sehr internationalen Bekannten- und Freundeskreis. Der Vater Frédérics widmete sich hauptsächlich der „Com“, saß stundenlang am Computer und kommunizierte mit seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden. Meine Söhne mobilisierten den sehr großen und internationalen Freundeskreis Frédérics. Da ich gut in die Kirchengemeinde eingebunden war und ein freundschaftliches Verhältnis zum Priester hatte, organisierte ich mit Hilfe meiner Söhne eine kirchliche Trauerfeier, die dann hauptsächlich von Frédérics Brüdern und seinem Freundeskreis bestritten wurde, der Priester ließ sie netterweise alles sehr frei gestalten.

Erinnerst du dich an bestimmte Gefühle oder Gedanken dieser Zeit?

All das passiert, indem man sich in einem seltsamen „Trance-Zustand“ befindet, der einem erlaubt, ganz gut zu funktionieren und der einen auch erstmal von der Wucht der Gefühle verschont. Es wird immer betont, wie anders sich Männer und Frauen in akuter Trauer verhalten, dass Männer sich eher der Organisation und Frauen dem „Zwischenmenschlichen“ widmen. Meine Erfahrung ist auch, dass man sich gut absprechen muss, welche Personen einem „gut tun“.

Leider hat mein Ex-Mann seinen Cousin zu uns nachhause geholt, dessen oft zynische Art ich noch nie mochte und der dann ohne mein Einverständnis bei uns aufkreuzte. Das hat meine Gefühle sehr stark verletzt, was eher mit der Haltung meines Ex‘ als mit dem Menschen selbst zu tun hatte. Achtsamkeit und Rücksichtnahme sind in dieser dramatischen Situation sehr wichtig.

Es kam dann auch zu „verrückten“ Situationen – aus Verzweiflung und weil uns allen die Decke auf den Kopf fiel. Irgendwann habe ich mir den Cousin und einen Freund geschnappt und bin mit ihnen auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Da standen wir dann vor dem etwas kitschig angeleuchtetem Schloss und haben Glühwein geschlürft. Dort, wo ich noch ein Jahr zuvor dasselbe mit meiner ein paar Monate zuvor verstorbenen Freundin getan hatte.

Gab es noch weitere, schwierige Situationen für dich?

Am nächsten Morgen rief mich ein Beamter der bayrischen Kripo an. Er dachte wohl, er telefoniere mit den Berliner Behörden. Er schrie mich im urbayrischen Akzent an, was er „denn mit der Leich don soll“ und ob wir nicht wüssten, dass die bayrischen Bestattungsverordnungen anders als in Berlin seien und dass er so schnell wie möglich “die Leiche“ loswerden wolle. Als ich ihm dann, völlig schockiert über Art und Ton, sagte, ich sei die betroffene trauernde Mutter, wurde er zwar etwas kleinlauter, aber nicht weniger bestimmt, dass man sich dringend um die Überführung kümmern müsse.

Auch hier waren wir wieder der Versicherungsgesellschaft ausgeliefert: sie bestimmte den Zeitpunkt der Überführung von Nürnberg nach Berlin, ausgerechnet die Strecke, die Frédéric so oft als Student zurückgelegt hatte. Oft mit Mitfahrgelegenheiten, d.h. mir unbekannten Fahrern bei jeder Jahreszeit und Witterung. Wie oft hatte ich schlaflos gelegen und gebangt und gebetet, dass er gut in Berlin ankommt. Nun fuhr sein lebloser Körper ausgerechnet diese Strecke das letzte Mal in seine Heimat und zu seiner letzten Ruhestätte. Diese Strecke wird für immer mit meinen Erinnerungen an diese Rückführung verbunden sein.

Selbst bei der Auswahl seines Sarges gab es mit der Versicherung noch Schwierigkeiten. Es ging um den Preis, der durch die Versicherung abgedeckt war. Gut, dass der Bestatter hier vermittelte und einiges Organisatorische übernommen hat. Der Bestatter war keine schlechte Wahl, aber doch etwas „traditionell“. Später habe ich Dinge erfahren, die in Deutschland möglich, aber nicht „Usus“ sind, die aber manchmal schon eben einen wichtigen Unterschied ausmachen.

Was hättest du an diesem Punkt gerne gewusst?

Uns wurde z.B. nicht gesagt, dass man die Lieben auch zuhause aufbahren und verabschieden kann. Es kann sein, dass das die komplizierten Umstände in unserem Fall es gar nicht zugelassen hätten, aber ich finde es trotzdem wichtig, es zu erwähnen. Unser Bestatter ist mit einem Unternehmen unter Vertrag, der eine Art „Aussegnungshalle“ in Berlin betreibt, dort fanden wir dann auch Frédéric. Wir wussten auch nicht, dass man seine Lieben auch selbst waschen und ankleiden kann. Auch das hätten wir wahrscheinlich nicht verkraftet – aber darüber informiert hat uns keiner.

Ich war froh, dass der Bestatter das Verabschieden am offenen Sarg organisiert hatte. Seit meiner frühen Jugend kenne ich Wichtigkeit der Trauer – und Verabschiedungsrituale. Das eigene Kind im Sarg liegen zu sehen ist eine Sache, aber kann ich es auch den jungen Brüdern und Freuden zutrauen? Ständig habe ich mich mit allem beschäftigt, sodass ich gar nicht recht zum Nachdenken kam, wie es mir eigentlich ging. Aber ich glaube das ist so ein Großfamilien-Mutterding, wir Mütter wollen es immer Allen Recht machen.

Meinen ältesten, geliebten Sohn im offenen Sarg zusehen, war natürlich ein Schock. Aber ich hatte ein großes Bedürfnis ihn zu berühren und zu küssen und die Kälte seiner Hände und Wangen waren unerträglich. Es war das ganz eindeutige und unwiderrufliche Zeichen, dass nur so direkt ins Herz geht, was der Verstand nicht wahrhaben will: er ist wirklich verstorben. Der nächste Gedanke war sofort: das ist nicht mehr er! Die Seele ist dem Körper entwichen, es ist nur noch seine Hülle, das wird einem nur so richtig klar.

Ich hatte in meinem Leben bereits ein paar Leichname gesehen, aber ich spürte in der „Aussegnungshalle“, zu der wir alle Menschen eingeladen hatten, die auch zur Beerdigung kommen wollten, dass es vor allem für die jungen Brüder und die jungen Freunde sehr starke Emotionen auslöste, ein erstes Mal so mit dem Tod konfrontiert zu werden. Auch diese Verantwortung spürte ich auf meinen Schultern, denn diesen Anblick werden diese jungen Menschen für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen!

Da ich mich bis heute, mehr als 7 Jahre nach dem Tod Frédérics noch unermüdlich für die Enttabuisierung von Sterben und Tod in unserer Gesellschaft einsetze (weshalb ich mich auch hier beteilige) empfinde ich es richtig, dass auch junge Menschen und Kinder bei Beerdigungen dabei sind und lernen, „unerschrocken“ mit diesen Thema umzugehen. Ein erstes Mal ein Haustier zu begraben ist bestimmt leichter, als dann später die Großeltern und noch später die eigenen Eltern zu beerdigen. Und dass die Reihenfolge manchmal, und öfter als man denkt, nicht stimmt, gehört eben zum Leben auch dazu. Leben und Tod sind 2 Seiten derselben Medaille.

Der Tag der Bestattung – wie hast du ihn erlebt?

Der Tag der Beerdigung war immer noch stark von Organisation geprägt. Seine Brüder und Freunde haben für die Trauerfeier viel übernommen und ich bin ihnen bis heute noch unendlich dankbar. Sie haben Plakate gemalt und eine Fotoshow zusammengestellt. All das war natürlich für mich herzzerreißend, denn viele von den Fotos hatten sie aus ihren persönlichen Handys kopiert und ich hatte sie noch nie gesehen. Stumme Zeugen eines das Leben umarmenden jungen Mannes, der leben, lieben, entdecken und die Welt verändern wollte! Was für ein Drama!

Eine Säule in dem ganzen Trubel war für mich unser Priester. Er war ein sehr aufgeschlossener, moderner Pfarrer, kam aus der demokratischen Republik Congo und integrierte die von mir so geliebte afrikanische Kultur in die sonntäglichen katholischen Gottesdienste. Ich glaube und hoffe, Frédéric hat seine Trauerfeier genossen. Die Fotoshow war mit Hilfe seiner „Playlist“ musikalisch begleitet – also hat er sie auch ein bisschen „mitgestaltet“.

Was war am Tag der Bestattung besonders wichtig für dich?

Wie immer die Menschen, die kamen und uns begleiteten. In meinen zahlreichen Mails, die ich in die ganze Welt verschickte, war immer am Ende der einzige wichtigste Satz: „Ohne Euch, meine Freunde und Familie werde ich dies nicht schaffen.“

Gab es auch etwas, was dir nicht so gut in Erinnerung geblieben ist?

Bis heute ist die Beerdigung Frédérics und vor allem die dort Anwesenden so eine Art Sympathie-Barometer für mich. Obwohl so viele Menschen kamen, habe ich das Gefühl, ich habe mir hauptsächlich gemerkt, wer kam und wer nicht. Das erinnert mich im Nachhinein wie das Splitten des Freundeskreises nach meiner Scheidung: die zu meinem Ex, und die zu mir standen.

Ein großer Schock für mich: der Opa von Frédéric, mein Vater, kam nicht zu seiner Beerdigung. Ok, er war etwas gehbehindert, aber Frédéric war sein erster Enkel gewesen und es gab eine starke Verbindung zwischen den beiden. Wie konnte so etwas passieren? Ich habe keine plausible Erklärung. Seit der Beerdigung meines Sohnes ist alles eigentlich ganz einfach: ich liebe (fast) alle die, die kamen und ich verachte (fast) alle, die nicht kamen.

Wie ging es nach Trauerfeier und Beisetzung weiter?

Die Eckkneipe, in die wir nach der Beisetzung gingen, war hoffnungslos überfüllt und die dort Angestellten gaben sich die größte Mühe, die bei Schneeregen durchgefrorene Trauergemeinschaft zu bewirten und aufzuwärmen. Deshalb lade ich immer noch meistens zu Frédérics Gedenk- und Geburtstagen in diese Kneipe ein. Auch hier habe ich eine innige Verbindung mit fremden Menschen aufgebaut.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Besonders ist mir in Erinnerung geblieben, dass meine beste Freundin mich ein paar Wochen später besucht und mich in der Nachbeben-Phase aufgefangen hat. Ich erinnere mich an heilsame Spaziergänge mit unserer Hündin und Gespräche über Frédéric und die Fragen über mein Weiterleben nach seinem Tod.

Durch die Tapferkeit meines jüngsten Sohnes motiviert, ging ich kurz nach der Beerdigung wieder zur Arbeit. Mir gab die Arbeit einerseits Struktur und andererseits auch die Ablenkung und Möglichkeit aus den ewigen Gedankenschleifen rauszukommen.

„Was habe ich falsch gemacht? was wäre passiert, wenn..? Wie hätte er gerettet werden können?“

Gab es etwas, das besonders schlimm für dich war?

Das schlimmste in den Wochen und Monaten danach war immer noch Post für Frédéric zu bekommen. Ein Unternehmen forderte Frédéric drei Mal schriftlich auf, die Schließung seines Kontos per Unterschrift zu bestätigen. Auch wenn der Antrag zur Schließung der Konten mit der Sterbeurkunde versehen und in die richtige Abteilung geschickt worden war, war dieser Fehler seitens des Unternehmens ein Speerstich direkt in mein Herz!

Was hast du unternommen, um mit deiner Trauer umzugehen?

Eine Freundin in Paris hatte vor Jahren auch ihren jugendlichen Sohn unter tragischen Umständen verloren. Wir hatten darüber gesprochen, dass sie seit Jahren in eine Trauergruppe geht. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Trauergruppe, was nicht ganz einfach war. Zuerst fand ich eine „geschlossene“ Gruppe und verstand erst nicht, was das bedeutete. Es bedeutet eine Gruppe trauernder Eltern, die sich seit Jahren kennt und keine neuen Zugänge an Mitgliedern wünscht, schade!

Dank Internet und ein paar Telefonaten erhielt ich dann die Telefonnummer einer „offenen Trauergruppe“, wo ich erst einmal auf den Anrufbeantworter stieß. Erste Reaktion: „Keine Chance, dass ich einer unbekannten Stimme den Satz sage: ‚Ich rufe an, denn mein Sohn ist tot‘“. Ich habe es dann geübt. Nach ein paar Versuchen habe ich es auch geschafft. Gerade solche banal anmutenden Situationen, können in diesem akuten Trauerzustand so schwer sein.

Der Rückruf kam in einem Moment, als ich im Büro war und mich mit meinem Handy schnell in den leeren Druckerraum verzog. Eine emphatische, ruhige Stimme erklärte mir das Prozedere und fragte nach den Details: Alter, Art des Versterbens, ob Geschwister da sind. Jeden ersten Freitag im Monat träfe sich diese offene Gruppe. Es gäbe eine Elterngruppe und auch eine Geschwistergruppe. Beim ersten Treffen sprach ich nicht viel, kämpfte ständig mit den Tränen und sah die Teilnehmenden wie durch einen Nebelvorhang. Das Wichtigste, das mir auffiel: sie haben alle dasselbe durchgemacht und leben noch und es wurde sogar recht oft gelacht während dieser ersten Sitzung, aber genauso wurde auch geweint. Ich spürte sofort eine tiefe Verbundenheit mit diesen ganz fremden Menschen.

Jetzt nach all den Jahren, wenn meine Freunde oder Familie mich fragen, ob und weshalb ich denn nach so langer Zeit immer noch in die Trauergruppe gehe, antworte ich genau das: weil ich akut Trauernden mit meiner Anwesenheit, meinen Geschichten aus dem Alltag, aber auch durch meine Erkenntnisse und Gedanken signalisieren möchte, dass man weiterleben kann, dass man sich zurück kämpfen kann ins Leben und wichtig, dass man auch wieder Lachen kann!

Aus Mitgliedern der offenen Trauergruppe entstand eine Gruppe, die sich zunächst nach dem Gruppentermin zu einem Bierchen oder einem Glas Wein in der Nähe zusammensetzte, und die dann begann, sich außerhalb der Gruppentermine privat zu treffen. Diese Gruppe lud mich nach ein paar Treffen ein dazuzukommen und so wurde sie meine geliebte „Trauermamas -Gruppe“ und auf nichts in der Welt möchte ich sie missen! Wir treffen uns regelmäßig zu unterschiedlichen Aktivitäten und sind vor allem auch elektronisch verbunden und helfen uns gegenseitig durch komplizierte Alltagssituationen in Verbindung mit unserer Trauer. Oft auch mit viel Humor und Witz, immer, um unserer Trauer gemeinsam zu begegnen.

Half dir neben der Trauergruppe noch etwas?

Was mir half: Lesen, Schreiben und Rituale. Im Juni 2019 stieß ich bei Facebook auf einen Aufruf einer anderen Trauergruppe, die bereits drei Bücher zum Thema Trauer veröffentlicht hatte und nun ein viertes veröffentlichen wollte mit Erfahrungsberichten zur „Veränderung der Trauer nach längerer Trauerzeit“. Ich bewarb mich, denn ich wollte anderen Trauenden vermitteln was zu meiner Trauerveränderung beigetragen hat und was geholfen hat, mit der Trauer zu leben, nach mehr als fünf Jahren.

Welche Rituale hattest du neben dem Lesen und Schreiben?

Ich erwähnte, dass ich regelmäßig in die Kirche ging und gehe. Abgesehen von unserem sympathischen Priester, ist die Kirche der einzige öffentliche Ort, wo wir jeden Sonntag „unseren verstorbenen Brüdern und Schwester“ gedenken. In meiner akuten Trauerzeit achtete ich oft nicht wirklich auf Predigt oder Gebete, aber ich wartete sehnsüchtig auf diesen einen Satz und spürte mit den mir in der Kirche sitzenden Menschen eine tiefe Verbundenheit.

Wir denken alle im selben Augenblick an unsere verstorbenen Liebsten und ich stellte mir immer vor, dass in diesem Moment alle auf uns herabschauen uns sich freuen, weil wir so innig bei ihnen sind und an sie denken. Auch kann man in katholischen Kirchen überall auf der Welt Kerzen anzünden und beten, auch das tat und tue ich natürlich auch jeden Sonntag und tue es auch, wenn ich verreise und an einer Kirche vorbeikomme. Dasselbe gilt natürlich für meine wöchentlichen Gänge auf den Friedhof, mit Hündin oder Freunden.

Frédéric starb an einem 1. Dezember. Seit März 2015, ein Tag an dem ich mich besonders einsam fühlte, begann ich an dem Tag ein weiteres Ritual: meine Familie und Freunde bekommen jeden ersten des Monats eine Mail mit dem Titel „remember Frédéric every 1st of the month“, in der ich eine kleine Weisheit, Erkenntnis, Erlebnis des vergangenen Monats in seinem Gedenke verschicke.

Warum sind Rituale so wichtig für dich?

In meinem Leben, das sich trotz allem auch oft wie ein Hamsterrad anfühlt, sind diese Rituale eine wunderbare spirituelle „Bremse“, ein „Anhalten aller Uhren“ währen dessen ich mich ganz meinem geliebten Frédéric, aber auch anderer Verstorbener widme. Es ist mein Dialog mit dem Jenseits und immer auch der Versuch, durch Stille und Einkehr Kontakt aufzunehmen. Meine Rituale sind wunderbare Momente und Quellen von tiefer Spiritualität und eine sinnreiche Zwiesprache mit der „anderen Welt“.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Die Trauer ist natürlich nicht verschwunden. Es ist genauso wie es gesagt wird: wir trauernden Eltern und Geschwister (und auch andere Nahestehende) haben “lebenslänglich“ bekommen. Aber man wächst auch mit der Trauer, weil wir alle diese besondere, wenn auch sehr schmerzhafte Erfahrung machen (von der keiner sagen kann, ob sie ihren Preis wert ist).

Wir haben an Tiefgang gewonnen. Wir können nicht mehr oberflächlich sein, nur noch wahre Gefühle zählen, wahre Freunde, ehrliche, authentische Beziehungen. Es liegt aber auch viel Einsamkeit in der Trauer, eben aus dem Grund, weil jeder Mensch anders trauert.

Ich habe in meinen Ritualen Halt gefunden und die Erkenntnis, dass die Momente außerhalb dieser Rituale wieder lebenswert sind, aber eben nur deshalb, weil ich weiß, dass ich mich in diesen Ritualen mit Frédéric verbinde, ihm meine Zeit schenke und meine Liebe sende. Außerhalb der Rituale widme ich mich seinen Brüdern und meinem Leben. Die Liebe zu meinen Kindern ist natürlich konstant und immer da – aber gesehen und gespürt wird ja Liebe erst dann, wenn man sie nach Außen bringt: Für Frédéric sind es die Momente der Rituale und mit seinen lebenden Brüdern sind es die Momente der Treffen, des Zusammenseins, sich gegenseitig unterstützen und auch die Rituale gemeinsam zu leben.

Wie hat sich dein Leben noch verändert?

Ich habe meine berufliche Ausrichtung als Coachin für Karriere und Persönlichkeitsentwicklung darauf ausgerichtet, Führungskräfte, die Personalverantwortung haben, darauf zu sensibilisieren, was es bedeutet, wenn Trauernde an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Ich möchte in die (Arbeits-)Welt schreien, dass Trauer weder Krankheit, Depression oder Psychose ist, sondern eben etwas Drittes. Etwas ganz Besonderes. Woran man wächst, wenn man sie zulässt.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Es gibt keine Ratschläge für Trauernde. Allerdings hoffe ich, dass ich ein paar Wegweiser hier aufgestellt habe, die aus den Erfahrungen und auf meinem Weg durch die Trauer entstanden sind. Dieser Weg ist (hoffentlich) noch lange nicht zu Ende.

Wir nehmen dich nach deinem Verlust an die Hand

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