Falk

Storytelling Parents

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

An dem Tag an dem mein Vater starb, war ich zuhause. Es passierte alles, während ich schlief. Ungefähr gegen 9:00 Uhr wachte ich schreckhaft auf mit dem Wissen, verschlafen zu haben. Zu dem Zeitpunkt war ich 14 Jahre alt und wurde normalerweise immer von meinem Vater geweckt. Als ich auf die Uhr schaute, stürmte ich wutentbrannt aus meinem Zimmer, um zu sehen warum mich keiner geweckt hatte.

Als ich um die Ecke des Flurs ging änderte sich plötzlich alles und ich realisierte das etwas ganz und gar nicht stimmt. Am Ende des Flurs standen Polizeibeamte. Mein erster Gedanke war: Unser Hund ist mal wieder abgehauen. Die Idee, dass einem Familienmitglied etwas zugestoßen sein könnte, kam mir nicht mal ansatzweise in den Sinn. Ich lief umgehend zurück in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Nach kurzer Zeit kam meine Mutter ins Zimmer und sagte, dass Sie mir gleich alles erkläre. Ganz schnell führte sie mich im Arm runter.

Unten angekommen, merkte ich, dass etwas wirklich Schlimmes passiert sein musste. Mein Bruder, der zu dem Zeitpunkt schon ausgezogen war, war auch da und sah bitterlich verweint aus. Daraufhin erzählte Mama mir, dass Papa verstorben ist an diesem Morgen und alles ganz plötzlich kam. Ich werde diesen Moment wohl nie vergessen.

Was hast du in diesem Moment gefühlt?

Die Gedanken an meine letzten Momente mit Papa kreisten nur so um mich und schweben mir bis heute ständig im Kopf. An dem Tag brach meine Welt zusammen und ich wusste nicht, inwiefern ich diesen Verlust wohl jemals ertragen könnte. Der Schmerz einen so geliebten Menschen zu verlieren, wird nie verschwinden. Die Art und Weise wie man damit lebt ändert sich allerdings.

Ich habe mich nicht von meinem Vater verabschiedet, da ich meine Erinnerung nicht mit einem solchen Moment trüben wollte. Bis heute glaube ich, war es die beste und schwerste Entscheidung zugleich. Denn der Abschied und das Realisieren des Verlustes sind dadurch schwierig. Wie soll man auch begreifen, dass man diesen Menschen nie wiedersehen wird, wenn er doch am Abend vorher noch Scherze mit dir gemacht hat? Andererseits hat sich das positive, vitale Bild meines Vaters dadurch nie verändert. Und darum bin ich sehr froh.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Ich habe die Zeit mit meinem damaligen Freund verbracht. Mein Vater starb an einem Freitag. Ich bin bereits montags wieder in die Schule zurückgekehrt, da ich den Trubel zuhause nicht aushielt. Auch meine Mutter wollte mich davor schützen. Nach einem plötzlichen Todesfall ist der anstehende Papierkram enorm und bürokratisch entstehen einige Hürden. Ich habe mich also so gut es geht abgelenkt.

Ich habe mit meinen Freunden über alles sprechen können, daher war es kein Verdrängen sondern ein einfaches Abtauchen aus der Situation. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt alles völlig unreal scheint. Ich glaube das, was mich im Nachhinein am meisten schockiert hat, ist die Tatsache, was alles auf meine Mutter zukam. Der Verlust eines geliebten Menschens, ein Umzug etc. sind schon Herausforderung genug. Doch das System erschwert viele Prozesse und verlangt finanziell und bürokratisch enorm viel von den Betroffenen ab.

Der Tag der Bestattung – wie hast du ihn erlebt?

Der Tag der Bestattung war sehr emotional und auch sehr bedrückend. Allerdings hatten wir zwei Trauerfeiern. Eine bei uns im Garten für alle Freunde und Angehörige und eine private Beisetzung in Hessen auf einem Waldfriedhof. Eine Beisetzung/Trauerfeier für einen recht jungen Mann, der plötzlich verstirbt, kann nur extrem schmerzhaft sein, weil der Tod so unfair scheint. Allerdings haben wir das Beste aus der Situation gemacht.

Was ist dir von diesem Tag positiv in Erinnerung geblieben?

Zu sehen wie viele Menschen mein Vater berührt und bewegt hat in seinem Leben, hat mir nur nochmal bestätigt was für ein wunderbarer Mensch er doch war. Und dass nicht nur ich um ihn trauern werde, sondern er täglich von so vielen Menschen vermisst werden wird. Er hat Spuren hinterlassen und niemand würde ihn je vergessen. Das hat mir ein Stück Mut, Hoffnung und Glücksgefühl beschert.

Denn ich konnte zumindest sagen, was ich für ein Glück hatte 14 Jahre lang einen solchen Vater gehabt zu haben. Einen Vater, der mir und meiner Familie so viel gegeben hat und mich mit größter Güte und Liebe erzogen hat. So ein Glück erfahren nicht alle Kinder. Das Wissen, immerhin 14 Jahre von ihm gehabt zu haben und so viel von ihm gelernt zu haben, hat mich mit Stolz erfüllt und durch diesen Tag gebracht.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Die erste Zeit nach dem Tod meines Vaters war extrem schwierig. Ich habe zwar weiter gemacht wie zuvor, und auch weiterhin gelacht und glückliche Momente gelebt. Aber das Bewusstsein darüber was der Tod bedeutet und dass ein Leben endlich ist, war für mich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht wirklich greifbar. Ich dachte ständig daran, meinen Vater bald wiederzusehen.

Auch heute denke ich, dass es nicht möglich ist, dass ich meinen Vater nie wieder umarmen kann. Diese bittere Realität werde ich nie begreifen können. Gerade zu Beginn war ich sehr sensibel und war schnell am Wasser gebaut. Das was mir in diesen Momenten am meisten geholfen hat, war der enge Bezug zu meinen Freunden. Ich musste so viel unternehmen, wie ich nur konnte. Denn vor meiner Mutter Trauer zeigen und zu weinen, war kaum vorstellbar.

Meine Mutter bat mich deshalb zu einer Psychologin zu gehen, aus dem einfachen Grund, dass sie nicht kontrollieren konnte, inwiefern ich über meine Trauer spreche. Für mich war das auch vollkommen okay und ich begab mich in eine Form von wöchentlichen Gesprächen mit meiner Psychologin. Es gab mir zwar einen neutralen Blick auf die Dinge, aber ich kann nicht sagen, dass Sie mir helfen konnte. Das liegt aber vor allem daran, dass man mir nicht helfen musste, denn ich habe meine Trauer bei meinen Freunden auslassen können und schon immer gut über den Verlust sprechen können.

Ich glaube das ist mit Abstand der wichtigste Punkt nach einem derartigen Ereignis. Ohne die offene Kommunikation wäre ich innerlich vermutlich daran zerbrochen. Mein Freund war mir zu dem Zeitpunkt eine sehr große Hilfe. Meine Freundinnen waren alle ebenfalls sehr bestürzt, da auch sie ein sehr enges Verhältnis zu meiner Familie und besonders zu meinem Vater hatten. Sie schwelgen bis heute gerne mit mir in Erinnerung und gemeinsam können wir über all die schönen Momente lachen, die mein Vater uns bescherte.

Was hat dich angetrieben, deinen Weg weiter zu gehen?

Es gab einige Menschen, die nicht begreifen konnte wie ich „einfach so weitermachen könnte“ und warteten förmlich auf einen Absturz. Ich denke es gibt viele Menschen, die ein solches Ereignis nicht verkraften. Für mich ist es bis heute auch nicht leicht, aber ein Gedanke hat mich durch alles hindurch geführt: Ich möchte meinen Vater stolz machen. Er soll von Oben auf mich herabschauen und glücklich sein. So wie er es auch von mir verlangen würde glücklich zu sein.

Ein weiterer Gedanke hielt mich über Wasser: Diese Art eines plötzlichen Todes ist zwar für die Zurückgebliebenen das Schlimmste, da es die Welt völlig unerwartet auf den Kopf stellt. Für meinen Vater war es allerdings die beste Form. Schnell, kurz und unspektakulär. Kein langer Leidensweg. Genau so hätte er es sich gewünscht.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Die Trauer verlässt einen nie. Es begleitet mich jeden Tag. Und jeden Tag wache ich auf und hoffe es wäre anders. Ich denke und vermisse Ihn jeden Tag, wünschte ich könnte ihm von meinem Tag erzählen, ihm stolz über meine neuen Lebensschritte berichten. Der Gedanke an die Zukunft und dass er nicht bei mir sein kann, wenn ich heirate; dass er mich nicht zum Altar laufen kann oder mit meinen Kindern irgendeinen Blödsinn machen kann; dass ich niemals mit ihm zusammen ein Bier trinken werde und bis spät in die Nacht über die Welt philosophieren kann.

All das sind Gedanken, die mich täglich begleiten. Aber genauso spüre ich jeden Tag eine tiefe Dankbarkeit für alles, was ich von ihm mitnehmen durfte und durch ihn gelernt habe. Und wenn man diese Dankbarkeit in den Vordergrund stellen kann, dann schafft man es auch einen Weg zu finden, mit der Trauer umzugehen.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Mein Rat: Sprich dich aus, es gibt keinen Grund diese Trauer und diese Gedanken mit dir selbst zu vereinbaren. Sei froh und dankbar über deine gemeinsame Zeit mit diesem Menschen, denn die wird dir niemals jemand nehmen können. Du verlierst niemanden für immer, denn dieser Mensch wird immer bei dir sein, weil du ihn in dir trägst. Er wird dich ständig begleiten und dir helfen, wenn du daran denkst, was dieser Mensch in dieser Situation gesagt und getan hätte. Für mich gibt es ein Leben nach dem Tod. Und ich weiß, dass mein Wunsch meinen Vater umarmen zu können in Erfüllung gehen wird.

Frédéric

Storytelling Child

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

Um die Situation zu beschreiben, in der ich war, als ich von Frédérics Tod erfahren habe, muss ich etwas ausholen: Frédéric war im September 2014 nach San Francisco gereist, um dort bei einem Startup ein Praktikum zu machen. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium in Nürnberg und Nancy (Frankreich) hatte er diese tolle Möglichkeit über eine ehemalige Mitschülerin erhalten. Eine Woche nach dem Interview mit dem Geschäftsführer, das er von unserem Sommerdomizil in Südfrankreich aus führte, saß er nach einem kurzen Stopp bei seinem Halbbruder in Paris im Flugzeug nach „SanFran“.

Frédéric war absolut begeistert von der Stadt, der Stimmung und der kollegialen Atmosphäre in dem Startup. Diese belohnte gegen Ende des Jahres ihre Mitarbeiter durch einen Arbeitsaufenthalt in Punta Cana, einem Massenurlaubsort auf der karibischen Insel Santo Domingo. Dort arbeiteten sie morgens und am Nachmittag nutzten die Mitarbeiter die vielzähligen Unterhaltungsmöglichkeiten. Frédéric schrieb begeisterte Mails oder SMS.

Nachts bekam ich dann in Berlin den Anruf aus den USA: Frédéric war bei einem Bootsausflug mit einem Kopfsprung in nicht ausreichend tiefes Wasser in Strandnähe gesprungen und hat vier Halswirbel „stark gestaucht“. Der stellvertretende Geschäftsführer, der mich aus San Francisco anrief, meinte, es sei „ernst“, er müsse wahrscheinlich in die Hauptstadt Santo Domingo überführt und operiert werden und dazu bräuchten sie meine Einwilligung, vor allem die Garantie der Übernahme der Krankenkasse. Es folgten massenweise administrative Aufgaben am frühen Morgen für mich, Formulare, die mir gemailt wurden ausdrucken und unterschreiben, die Versicherung kontaktieren. Ich fühlte mich sicher, dass alles gut laufen würde, wir waren gut versichert und ich bereit, alle notwendigen Informationen zeitnah zu liefern.

Ist dir an diesem Tag etwas besonders in Erinnerung geblieben?

Ich mache hier mal einen „Ausflug“ in die Welt der Versicherungen, von denen man sich ja immer irgendwie „beschützt und abgesichert“ fühlt. Um ein Praktikum in den USA zu machen, hatte Frédéric obligatorischer Weise eine recht teure „all round“ Versicherung abgeschlossen, die natürlich ärztliche Versorgung sowie Krankenhausbehandlungen einschloss. Diese Versicherungen haben aber Klauseln, u.a. in Bezug auf Betreuung und Rückführung. Diese Versicherungsfragen wurden leider in den Umständen in denen Frédéric verunglückt und gestorben ist, zum roten Faden aller daraus folgenden Handlungen.

Er befand sich, als er verunglückte, in einem Entwicklungsland mit mäßiger Gesundheitsversorgung. Da ein amerikanischer Arzt in seinem Team war, stellte sich von Anfang an die Frage, ob man ihn nicht von Punta Cana aus direkt nach Florida transportieren sollte, wo er eine optimalere ärztliche Behandlung bekommen würde (oder bekommen hätte) und diese Fragen wurden IMMER von der Versicherungsgesellschaft beantwortet.

Dass die Versicherungsgesellschaft immer mit im Boot saß, bekamen wir ständig zu spüren: sie entschied wo und wie Frédéric medizinisch versorgt würde, ob und wann er nach Deutschland überführt werde, bis hin wie und wann er beerdigt werden könne, welcher Sarg durch die Versicherung „abgedeckt“ war. Auch in Deutschland können solche Umstände auftreten. Ich habe im Nachhinein von vielen organisatorischen Ungereimtheiten nach Unfällen oder Katastrophen oder auch Kunstfehlern gehört und die Konsequenzen der Versicherungen daraus sind oft nebulös.

Wie hast du von dem Tod erfahren?

Die von der Versicherung eingesetzte Fluggesellschaft, die Frédéric als schwer Verletzten rückführte, informierte mich von Deutschland aus über seinen Tod im Himmel über Kanada. Zu diesem Zeitpunkt war ich in Punta Cana, in der Nähe von dem Ort wo Frédéric verunglückt war. Es war mir nicht erlaubt worden mitzufliegen, da im Flugzeug neben den lebenserhaltenden Instrumenten, einem Intensivpfleger und zwei Piloten kein Platz für eine zusätzliche Passagierin war. Schweren Herzens hatte ich ihn in der Nacht im Krankenhaus verabschiedet.

Der Anruf, dass Frédéric im Himmel von Kanada gestorben war, erreichte mich in dem Hotelzimmer, in dem ich mich vor dem langen Rückflug ein wenig ausruhen sollte. Mein Handy klingelte in dem gleichen Moment, in dem mir das Hotelzimmer aufgeschlossen wurde. Ich sah, dass der Anruf aus Deutschland und drückte ihn weg, hatte aber sofort das Gefühl, dass das nichts Gutes bedeutete. Kaum hatte ich mein Gepäck abgestellt klingelte es wieder.

„Es tut mir leid, dass…“

Ich hatte sofort begriffen – man begreift sofort, es ist verrückt: in keiner einzigen Sekunde seit dem Anruf in Berlin hatte ich daran gedacht, dass Frédéric an den Folgen seines Unfalls sterben könnte. In keiner einzigen Sekunde! Und dann dieser zweite Anruf – sofort war mir alles klar – es ist eine Katastrophe passiert.

Wie hast du dich in dem Moment gefühlt?

Wie ein allwissender Stein stürzte es auf mich herab: diese Nachricht wird Dein Leben verändern – dieser Anruf ist die Annonce einer Katastrophe – dieser Anruf ist ein Anruf, den niemand, absolut niemand im Leben verdient hat!

Und doch: es traf mich wie eine Bombe. Diesen Bombeneinschlag fühle ich noch bis heute. Mit jeder Nervenzelle meines Körpers. Diese Bombe schlug ein tiefes Loch in mein Herz. Mit diesem Loch im Herzen lebe ich bis heute.

Und was antwortet man auf die Todesnachricht des eignen Kindes? Ich antworte so, weil ich die ganze tonnenschwere Verantwortung, meinen schwer verletzen Sohn nach Deutschland rückführen zu lassen, ganz alleine trug, da ich als Einzige vor Ort war. Meine Reaktion war eine kristallklare, luzide Frage: Dr. Sowieso, habe ich meinen Sohn durch diesen Rücktransport umgebracht?

Ich trug diese Verantwortung alleine, da nur ich vor Ort war und zehn Tage mit den Ärzten und den Versicherungsvertretern verhandelt hatte, ob Frédéric rückführungstauglich sei. Keiner, weder die Ärzte noch die Gutachter der Versicherung konnten dies einschätzen, und schon gar nicht ich selbst. Aber es mussten eben rasch Entscheidungen getroffen werden, Entscheidungen, an denen Frédérics Leben hing.

Der bayrische Bereitschaftsarzt beruhigte mich zwar am Telefon mit seiner Antwort, indem er mir versicherte, dass sie Frédéric auf keinen Fall transportiert hätten, wären da irgendwelche Zweifel gewesen, dass er die lange Flugreise nicht überstehen wird. Aber Fragen blieben und bleiben offen, Schuldgefühle sind bis heute nicht loszuwerden.

Was hast du gemacht, nachdem du die Nachricht über den Tod erhalten hast?

Im Hotelzimmer schwankte der Boden unter meinen Füßen, als ich versuchte aufzustehen. Was macht man da so alleine? Wie hält man so etwas aus? Es kam kein Schrei aus meiner Brust, keine Tränen flossen – es war da nur ein unbeschreiblicher Schmerz in meinem Herzen, ein elendiger Druck in der Brust und das Gefühl, innerlich durchbohrt zu werden.

Ich rief Frédérics Vater, seine Brüder, meine beste Freundin und meine Mutter an. Obwohl es sich nach Ohnmacht anfühlte, war ich bei vollem Bewusstsein und die paar Stunden bis zu meinem Abflug nach Deutschland vergingen nur zäh und langsam. Das Touristenflugzeug war mit vielen jungen Menschen besetzt, die die Spätsaison genutzt hatten, um nochmal vor dem Winter in Deutschland Sonne zu tanken. Ausgerechnet neben jungen Männern, die in Frédérics Alter waren, wurde ich platziert.

Wie ist der Flug nach Hause abgelaufen?

Ich weiß nicht weshalb, aber noch vor dem Abflug kam eine Stewardess auf mich zu und fragte, ob etwas nicht stimmte. Ich glaube ich sagte ihr gerade heraus, dass ich vor ein paar Stunden erfahren hatte, dass mein 21-jähriger verletzter Sohn auf dem Rücktransport nach Deutschland gestorben war. Sie organisierte mir 2 freie Sitze in einer Fensterreihe, die sie eigentlich für die Crew reserviert hatte.

Sie blieb lange neben mir kniend, meine Hand haltend sitzen und erzählte mir von ihrem einzigen noch kleinen Kind und dass sie so oft denkt, was für ein Albtraum es sein müsse, ein Kind zu verlieren. Wie oft sollte ich den von mir inzwischen verhassten Satz noch hören müssen: „ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste was einem passieren kann“.

Warum ich diesen Satz hasse? Weil er kein Trost ist. Er bestätigt nur, was man ohnehin weiß und was man nicht auch noch immer wieder hören will. Es fühlt sich für mich so an, als würde ich, obwohl ich bereits zerstört auf dem Boden liege, nochmal nachgetreten bekommen. Damals empfand ich das noch nicht so. Ich war ja erst am Anfang der schwersten Reise meines Lebens.

Ich erinnere mich, dass die Stewardess lange neben mir kniete, ihren Dienst vernachlässigte, aber dafür Verständnis von ihren Kollegen bekam. An bestimmte Gedanken oder konkrete Dinge erinnere ich mich nicht. Ich glaube, ich stand unter Schock und wünschte mir nur eins: so schnell wie möglich zu Frédérics Brüdern zu kommen.

Was waren deine ersten Gedanken?

Erst sehr viel später ließ ich Gedanken und Fragen zu: „Wie ist er wohl in dieser fliegenden Intensivstation gestorben? Haben ihn seine Begleiter würdevoll verabschiedet?“

Ich weiß nur eines, sie haben alles getan, um ihn zu retten. Sie wussten , dass sie die Verantwortung für ein so junges Leben hatten und haben sich sicherlich hundertprozentig für ihn eingesetzt.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Die Tage nach meiner Ankunft in Berlin waren mit Organisation gefüllt. Zunächst hatten wir keine Ahnung, wohin Frédéric transportiert worden war. Der Heimatflughafen der Flugnotrettung war Nürnberg und der Pilot hatte nach Frédérics Versterben im Himmel von Kanada die Anordnung bekommen, nicht wie geplant in die Unfallklinik nach Berlin-Marzahn, sondern nach Hause zu fliegen. Über das, was dann passieren sollte wurden wir erst einmal nicht informiert.

Hast du dir die organisatorische Verantwortung geteilt?

Da ich mich fünf Jahre zuvor vom Vater von Frédéric getrennt hatte und mit ihm und seinen drei Brüdern ein recht eingespieltes Team geworden war, teilten wir uns die vielen anstehenden Aufgaben. Leider hatte ich im Frühjahr und im Sommer bereits zwei mir nahestehende Freundinnen beerdigt, sodass mir die Organisation der Beerdigung nicht so schwerfiel.

Frédéric, seine Brüder und auch wir, seine Eltern haben aus beruflichen Gründen einen sehr internationalen Bekannten- und Freundeskreis. Der Vater Frédérics widmete sich hauptsächlich der „Com“, saß stundenlang am Computer und kommunizierte mit seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden. Meine Söhne mobilisierten den sehr großen und internationalen Freundeskreis Frédérics. Da ich gut in die Kirchengemeinde eingebunden war und ein freundschaftliches Verhältnis zum Priester hatte, organisierte ich mit Hilfe meiner Söhne eine kirchliche Trauerfeier, die dann hauptsächlich von Frédérics Brüdern und seinem Freundeskreis bestritten wurde, der Priester ließ sie netterweise alles sehr frei gestalten.

Erinnerst du dich an bestimmte Gefühle oder Gedanken dieser Zeit?

All das passiert, indem man sich in einem seltsamen „Trance-Zustand“ befindet, der einem erlaubt, ganz gut zu funktionieren und der einen auch erstmal von der Wucht der Gefühle verschont. Es wird immer betont, wie anders sich Männer und Frauen in akuter Trauer verhalten, dass Männer sich eher der Organisation und Frauen dem „Zwischenmenschlichen“ widmen. Meine Erfahrung ist auch, dass man sich gut absprechen muss, welche Personen einem „gut tun“.

Leider hat mein Ex-Mann seinen Cousin zu uns nachhause geholt, dessen oft zynische Art ich noch nie mochte und der dann ohne mein Einverständnis bei uns aufkreuzte. Das hat meine Gefühle sehr stark verletzt, was eher mit der Haltung meines Ex‘ als mit dem Menschen selbst zu tun hatte. Achtsamkeit und Rücksichtnahme sind in dieser dramatischen Situation sehr wichtig.

Es kam dann auch zu „verrückten“ Situationen – aus Verzweiflung und weil uns allen die Decke auf den Kopf fiel. Irgendwann habe ich mir den Cousin und einen Freund geschnappt und bin mit ihnen auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Da standen wir dann vor dem etwas kitschig angeleuchtetem Schloss und haben Glühwein geschlürft. Dort, wo ich noch ein Jahr zuvor dasselbe mit meiner ein paar Monate zuvor verstorbenen Freundin getan hatte.

Gab es noch weitere, schwierige Situationen für dich?

Am nächsten Morgen rief mich ein Beamter der bayrischen Kripo an. Er dachte wohl, er telefoniere mit den Berliner Behörden. Er schrie mich im urbayrischen Akzent an, was er „denn mit der Leich don soll“ und ob wir nicht wüssten, dass die bayrischen Bestattungsverordnungen anders als in Berlin seien und dass er so schnell wie möglich “die Leiche“ loswerden wolle. Als ich ihm dann, völlig schockiert über Art und Ton, sagte, ich sei die betroffene trauernde Mutter, wurde er zwar etwas kleinlauter, aber nicht weniger bestimmt, dass man sich dringend um die Überführung kümmern müsse.

Auch hier waren wir wieder der Versicherungsgesellschaft ausgeliefert: sie bestimmte den Zeitpunkt der Überführung von Nürnberg nach Berlin, ausgerechnet die Strecke, die Frédéric so oft als Student zurückgelegt hatte. Oft mit Mitfahrgelegenheiten, d.h. mir unbekannten Fahrern bei jeder Jahreszeit und Witterung. Wie oft hatte ich schlaflos gelegen und gebangt und gebetet, dass er gut in Berlin ankommt. Nun fuhr sein lebloser Körper ausgerechnet diese Strecke das letzte Mal in seine Heimat und zu seiner letzten Ruhestätte. Diese Strecke wird für immer mit meinen Erinnerungen an diese Rückführung verbunden sein.

Selbst bei der Auswahl seines Sarges gab es mit der Versicherung noch Schwierigkeiten. Es ging um den Preis, der durch die Versicherung abgedeckt war. Gut, dass der Bestatter hier vermittelte und einiges Organisatorische übernommen hat. Der Bestatter war keine schlechte Wahl, aber doch etwas „traditionell“. Später habe ich Dinge erfahren, die in Deutschland möglich, aber nicht „Usus“ sind, die aber manchmal schon eben einen wichtigen Unterschied ausmachen.

Was hättest du an diesem Punkt gerne gewusst?

Uns wurde z.B. nicht gesagt, dass man die Lieben auch zuhause aufbahren und verabschieden kann. Es kann sein, dass das die komplizierten Umstände in unserem Fall es gar nicht zugelassen hätten, aber ich finde es trotzdem wichtig, es zu erwähnen. Unser Bestatter ist mit einem Unternehmen unter Vertrag, der eine Art „Aussegnungshalle“ in Berlin betreibt, dort fanden wir dann auch Frédéric. Wir wussten auch nicht, dass man seine Lieben auch selbst waschen und ankleiden kann. Auch das hätten wir wahrscheinlich nicht verkraftet – aber darüber informiert hat uns keiner.

Ich war froh, dass der Bestatter das Verabschieden am offenen Sarg organisiert hatte. Seit meiner frühen Jugend kenne ich Wichtigkeit der Trauer – und Verabschiedungsrituale. Das eigene Kind im Sarg liegen zu sehen ist eine Sache, aber kann ich es auch den jungen Brüdern und Freuden zutrauen? Ständig habe ich mich mit allem beschäftigt, sodass ich gar nicht recht zum Nachdenken kam, wie es mir eigentlich ging. Aber ich glaube das ist so ein Großfamilien-Mutterding, wir Mütter wollen es immer Allen Recht machen.

Meinen ältesten, geliebten Sohn im offenen Sarg zusehen, war natürlich ein Schock. Aber ich hatte ein großes Bedürfnis ihn zu berühren und zu küssen und die Kälte seiner Hände und Wangen waren unerträglich. Es war das ganz eindeutige und unwiderrufliche Zeichen, dass nur so direkt ins Herz geht, was der Verstand nicht wahrhaben will: er ist wirklich verstorben. Der nächste Gedanke war sofort: das ist nicht mehr er! Die Seele ist dem Körper entwichen, es ist nur noch seine Hülle, das wird einem nur so richtig klar.

Ich hatte in meinem Leben bereits ein paar Leichname gesehen, aber ich spürte in der „Aussegnungshalle“, zu der wir alle Menschen eingeladen hatten, die auch zur Beerdigung kommen wollten, dass es vor allem für die jungen Brüder und die jungen Freunde sehr starke Emotionen auslöste, ein erstes Mal so mit dem Tod konfrontiert zu werden. Auch diese Verantwortung spürte ich auf meinen Schultern, denn diesen Anblick werden diese jungen Menschen für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen!

Da ich mich bis heute, mehr als 7 Jahre nach dem Tod Frédérics noch unermüdlich für die Enttabuisierung von Sterben und Tod in unserer Gesellschaft einsetze (weshalb ich mich auch hier beteilige) empfinde ich es richtig, dass auch junge Menschen und Kinder bei Beerdigungen dabei sind und lernen, „unerschrocken“ mit diesen Thema umzugehen. Ein erstes Mal ein Haustier zu begraben ist bestimmt leichter, als dann später die Großeltern und noch später die eigenen Eltern zu beerdigen. Und dass die Reihenfolge manchmal, und öfter als man denkt, nicht stimmt, gehört eben zum Leben auch dazu. Leben und Tod sind 2 Seiten derselben Medaille.

Der Tag der Bestattung – wie hast du ihn erlebt?

Der Tag der Beerdigung war immer noch stark von Organisation geprägt. Seine Brüder und Freunde haben für die Trauerfeier viel übernommen und ich bin ihnen bis heute noch unendlich dankbar. Sie haben Plakate gemalt und eine Fotoshow zusammengestellt. All das war natürlich für mich herzzerreißend, denn viele von den Fotos hatten sie aus ihren persönlichen Handys kopiert und ich hatte sie noch nie gesehen. Stumme Zeugen eines das Leben umarmenden jungen Mannes, der leben, lieben, entdecken und die Welt verändern wollte! Was für ein Drama!

Eine Säule in dem ganzen Trubel war für mich unser Priester. Er war ein sehr aufgeschlossener, moderner Pfarrer, kam aus der demokratischen Republik Congo und integrierte die von mir so geliebte afrikanische Kultur in die sonntäglichen katholischen Gottesdienste. Ich glaube und hoffe, Frédéric hat seine Trauerfeier genossen. Die Fotoshow war mit Hilfe seiner „Playlist“ musikalisch begleitet – also hat er sie auch ein bisschen „mitgestaltet“.

Was war am Tag der Bestattung besonders wichtig für dich?

Wie immer die Menschen, die kamen und uns begleiteten. In meinen zahlreichen Mails, die ich in die ganze Welt verschickte, war immer am Ende der einzige wichtigste Satz: „Ohne Euch, meine Freunde und Familie werde ich dies nicht schaffen.“

Gab es auch etwas, was dir nicht so gut in Erinnerung geblieben ist?

Bis heute ist die Beerdigung Frédérics und vor allem die dort Anwesenden so eine Art Sympathie-Barometer für mich. Obwohl so viele Menschen kamen, habe ich das Gefühl, ich habe mir hauptsächlich gemerkt, wer kam und wer nicht. Das erinnert mich im Nachhinein wie das Splitten des Freundeskreises nach meiner Scheidung: die zu meinem Ex, und die zu mir standen.

Ein großer Schock für mich: der Opa von Frédéric, mein Vater, kam nicht zu seiner Beerdigung. Ok, er war etwas gehbehindert, aber Frédéric war sein erster Enkel gewesen und es gab eine starke Verbindung zwischen den beiden. Wie konnte so etwas passieren? Ich habe keine plausible Erklärung. Seit der Beerdigung meines Sohnes ist alles eigentlich ganz einfach: ich liebe (fast) alle die, die kamen und ich verachte (fast) alle, die nicht kamen.

Wie ging es nach Trauerfeier und Beisetzung weiter?

Die Eckkneipe, in die wir nach der Beisetzung gingen, war hoffnungslos überfüllt und die dort Angestellten gaben sich die größte Mühe, die bei Schneeregen durchgefrorene Trauergemeinschaft zu bewirten und aufzuwärmen. Deshalb lade ich immer noch meistens zu Frédérics Gedenk- und Geburtstagen in diese Kneipe ein. Auch hier habe ich eine innige Verbindung mit fremden Menschen aufgebaut.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Besonders ist mir in Erinnerung geblieben, dass meine beste Freundin mich ein paar Wochen später besucht und mich in der Nachbeben-Phase aufgefangen hat. Ich erinnere mich an heilsame Spaziergänge mit unserer Hündin und Gespräche über Frédéric und die Fragen über mein Weiterleben nach seinem Tod.

Durch die Tapferkeit meines jüngsten Sohnes motiviert, ging ich kurz nach der Beerdigung wieder zur Arbeit. Mir gab die Arbeit einerseits Struktur und andererseits auch die Ablenkung und Möglichkeit aus den ewigen Gedankenschleifen rauszukommen.

„Was habe ich falsch gemacht? was wäre passiert, wenn..? Wie hätte er gerettet werden können?“

Gab es etwas, das besonders schlimm für dich war?

Das schlimmste in den Wochen und Monaten danach war immer noch Post für Frédéric zu bekommen. Ein Unternehmen forderte Frédéric drei Mal schriftlich auf, die Schließung seines Kontos per Unterschrift zu bestätigen. Auch wenn der Antrag zur Schließung der Konten mit der Sterbeurkunde versehen und in die richtige Abteilung geschickt worden war, war dieser Fehler seitens des Unternehmens ein Speerstich direkt in mein Herz!

Was hast du unternommen, um mit deiner Trauer umzugehen?

Eine Freundin in Paris hatte vor Jahren auch ihren jugendlichen Sohn unter tragischen Umständen verloren. Wir hatten darüber gesprochen, dass sie seit Jahren in eine Trauergruppe geht. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Trauergruppe, was nicht ganz einfach war. Zuerst fand ich eine „geschlossene“ Gruppe und verstand erst nicht, was das bedeutete. Es bedeutet eine Gruppe trauernder Eltern, die sich seit Jahren kennt und keine neuen Zugänge an Mitgliedern wünscht, schade!

Dank Internet und ein paar Telefonaten erhielt ich dann die Telefonnummer einer „offenen Trauergruppe“, wo ich erst einmal auf den Anrufbeantworter stieß. Erste Reaktion: „Keine Chance, dass ich einer unbekannten Stimme den Satz sage: ‚Ich rufe an, denn mein Sohn ist tot‘“. Ich habe es dann geübt. Nach ein paar Versuchen habe ich es auch geschafft. Gerade solche banal anmutenden Situationen, können in diesem akuten Trauerzustand so schwer sein.

Der Rückruf kam in einem Moment, als ich im Büro war und mich mit meinem Handy schnell in den leeren Druckerraum verzog. Eine emphatische, ruhige Stimme erklärte mir das Prozedere und fragte nach den Details: Alter, Art des Versterbens, ob Geschwister da sind. Jeden ersten Freitag im Monat träfe sich diese offene Gruppe. Es gäbe eine Elterngruppe und auch eine Geschwistergruppe. Beim ersten Treffen sprach ich nicht viel, kämpfte ständig mit den Tränen und sah die Teilnehmenden wie durch einen Nebelvorhang. Das Wichtigste, das mir auffiel: sie haben alle dasselbe durchgemacht und leben noch und es wurde sogar recht oft gelacht während dieser ersten Sitzung, aber genauso wurde auch geweint. Ich spürte sofort eine tiefe Verbundenheit mit diesen ganz fremden Menschen.

Jetzt nach all den Jahren, wenn meine Freunde oder Familie mich fragen, ob und weshalb ich denn nach so langer Zeit immer noch in die Trauergruppe gehe, antworte ich genau das: weil ich akut Trauernden mit meiner Anwesenheit, meinen Geschichten aus dem Alltag, aber auch durch meine Erkenntnisse und Gedanken signalisieren möchte, dass man weiterleben kann, dass man sich zurück kämpfen kann ins Leben und wichtig, dass man auch wieder Lachen kann!

Aus Mitgliedern der offenen Trauergruppe entstand eine Gruppe, die sich zunächst nach dem Gruppentermin zu einem Bierchen oder einem Glas Wein in der Nähe zusammensetzte, und die dann begann, sich außerhalb der Gruppentermine privat zu treffen. Diese Gruppe lud mich nach ein paar Treffen ein dazuzukommen und so wurde sie meine geliebte „Trauermamas -Gruppe“ und auf nichts in der Welt möchte ich sie missen! Wir treffen uns regelmäßig zu unterschiedlichen Aktivitäten und sind vor allem auch elektronisch verbunden und helfen uns gegenseitig durch komplizierte Alltagssituationen in Verbindung mit unserer Trauer. Oft auch mit viel Humor und Witz, immer, um unserer Trauer gemeinsam zu begegnen.

Half dir neben der Trauergruppe noch etwas?

Was mir half: Lesen, Schreiben und Rituale. Im Juni 2019 stieß ich bei Facebook auf einen Aufruf einer anderen Trauergruppe, die bereits drei Bücher zum Thema Trauer veröffentlicht hatte und nun ein viertes veröffentlichen wollte mit Erfahrungsberichten zur „Veränderung der Trauer nach längerer Trauerzeit“. Ich bewarb mich, denn ich wollte anderen Trauenden vermitteln was zu meiner Trauerveränderung beigetragen hat und was geholfen hat, mit der Trauer zu leben, nach mehr als fünf Jahren.

Welche Rituale hattest du neben dem Lesen und Schreiben?

Ich erwähnte, dass ich regelmäßig in die Kirche ging und gehe. Abgesehen von unserem sympathischen Priester, ist die Kirche der einzige öffentliche Ort, wo wir jeden Sonntag „unseren verstorbenen Brüdern und Schwester“ gedenken. In meiner akuten Trauerzeit achtete ich oft nicht wirklich auf Predigt oder Gebete, aber ich wartete sehnsüchtig auf diesen einen Satz und spürte mit den mir in der Kirche sitzenden Menschen eine tiefe Verbundenheit.

Wir denken alle im selben Augenblick an unsere verstorbenen Liebsten und ich stellte mir immer vor, dass in diesem Moment alle auf uns herabschauen uns sich freuen, weil wir so innig bei ihnen sind und an sie denken. Auch kann man in katholischen Kirchen überall auf der Welt Kerzen anzünden und beten, auch das tat und tue ich natürlich auch jeden Sonntag und tue es auch, wenn ich verreise und an einer Kirche vorbeikomme. Dasselbe gilt natürlich für meine wöchentlichen Gänge auf den Friedhof, mit Hündin oder Freunden.

Frédéric starb an einem 1. Dezember. Seit März 2015, ein Tag an dem ich mich besonders einsam fühlte, begann ich an dem Tag ein weiteres Ritual: meine Familie und Freunde bekommen jeden ersten des Monats eine Mail mit dem Titel „remember Frédéric every 1st of the month“, in der ich eine kleine Weisheit, Erkenntnis, Erlebnis des vergangenen Monats in seinem Gedenke verschicke.

Warum sind Rituale so wichtig für dich?

In meinem Leben, das sich trotz allem auch oft wie ein Hamsterrad anfühlt, sind diese Rituale eine wunderbare spirituelle „Bremse“, ein „Anhalten aller Uhren“ währen dessen ich mich ganz meinem geliebten Frédéric, aber auch anderer Verstorbener widme. Es ist mein Dialog mit dem Jenseits und immer auch der Versuch, durch Stille und Einkehr Kontakt aufzunehmen. Meine Rituale sind wunderbare Momente und Quellen von tiefer Spiritualität und eine sinnreiche Zwiesprache mit der „anderen Welt“.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Die Trauer ist natürlich nicht verschwunden. Es ist genauso wie es gesagt wird: wir trauernden Eltern und Geschwister (und auch andere Nahestehende) haben “lebenslänglich“ bekommen. Aber man wächst auch mit der Trauer, weil wir alle diese besondere, wenn auch sehr schmerzhafte Erfahrung machen (von der keiner sagen kann, ob sie ihren Preis wert ist).

Wir haben an Tiefgang gewonnen. Wir können nicht mehr oberflächlich sein, nur noch wahre Gefühle zählen, wahre Freunde, ehrliche, authentische Beziehungen. Es liegt aber auch viel Einsamkeit in der Trauer, eben aus dem Grund, weil jeder Mensch anders trauert.

Ich habe in meinen Ritualen Halt gefunden und die Erkenntnis, dass die Momente außerhalb dieser Rituale wieder lebenswert sind, aber eben nur deshalb, weil ich weiß, dass ich mich in diesen Ritualen mit Frédéric verbinde, ihm meine Zeit schenke und meine Liebe sende. Außerhalb der Rituale widme ich mich seinen Brüdern und meinem Leben. Die Liebe zu meinen Kindern ist natürlich konstant und immer da – aber gesehen und gespürt wird ja Liebe erst dann, wenn man sie nach Außen bringt: Für Frédéric sind es die Momente der Rituale und mit seinen lebenden Brüdern sind es die Momente der Treffen, des Zusammenseins, sich gegenseitig unterstützen und auch die Rituale gemeinsam zu leben.

Wie hat sich dein Leben noch verändert?

Ich habe meine berufliche Ausrichtung als Coachin für Karriere und Persönlichkeitsentwicklung darauf ausgerichtet, Führungskräfte, die Personalverantwortung haben, darauf zu sensibilisieren, was es bedeutet, wenn Trauernde an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Ich möchte in die (Arbeits-)Welt schreien, dass Trauer weder Krankheit, Depression oder Psychose ist, sondern eben etwas Drittes. Etwas ganz Besonderes. Woran man wächst, wenn man sie zulässt.

Was würdest du jemandem raten, der eine ähnliche Situation durchlebt?

Es gibt keine Ratschläge für Trauernde. Allerdings hoffe ich, dass ich ein paar Wegweiser hier aufgestellt habe, die aus den Erfahrungen und auf meinem Weg durch die Trauer entstanden sind. Dieser Weg ist (hoffentlich) noch lange nicht zu Ende.

Anita

Storytelling Parents

Erzähl mir von dem Jahr, in dem deine Mutter verstorben ist.

So richtig weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll – ich weiß nur, dass es wichtig ist, seine Gedanken mal niederzuschreiben, weil sie sonst gefangen sind, da wo sie sind. Außerdem ist es wichtig für mich, die Dinge aufzuschreiben oder darüber zu reden, um sie „sauber“ verarbeiten zu können.

Das Jahr 2018 stand schon zu Beginn unter keinem guten Stern! Angefangen hatte alles mit dem Tod meines Cousins Ende Februar – mit nur 39 Jahren! Auch ein fieser Krebs! Meine Mama war sehr für alle Angehörigen da – obwohl sie scheinbar da auch schon mit den Vorboten Ihrer eigenen Geschichte zu kämpfen hatte – was aber niemand wusste.

Ein paar Wochen später folgte die schreckliche Nachricht, dass meine Freundin Nadine aus Leipzig (hatte zu dem Zeitpunkt zwei kleine Kinder) an plötzlicher Hirnblutung verstorben ist. Das war ebenso schrecklich. Und das hörte einfach nicht auf – zahlreiche weitere solche Nachrichten erreichten uns in regelmäßigen Abständen. Das musste ich als Einleitung mal erzählen, weil das Jahr 2018 einfach das Schlimmste in meinem Leben war.

Wie hat sich die Krankheit deiner Mutter angedeutet?

Also in Kurzform erzählt war ab dem Sommer 2018 irgendetwas eigenartig – ich spürte schon, dass es nichts Gutes werden wird, als meine Mama ständig solche Dinge erzählte wie „Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist – ich bin jetzt immer so deprimiert und habe keine Lust mehr aufs Kochen!“ Da schellten bei mir die Alarmglocken! So etwas hat meine Mutti noch nie gesagt.

Sie hatte in der Vergangenheit gesundheitlich schon mit vielen Problemen zu kämpfen. Sogar den Schwarzen Hautkrebs hatte sie besiegt, als ich noch ein Teenie war! Aber nun war mein Gefühl ein ganz furchtbares. Sie erzählte uns dann ab und zu von ihren Problemen und zeigte uns einen „Knubbel“ an ihrem Arm, von dem sie vermutete, dass es eine Sehnenscheidenentzündung ist. Aber als sie dann an ihrem Geburtstag am 13. September 2018 nach einiger Zeit einfach so verschwunden war und wir sie dann mit schlimmen Schmerzen im Bett liegend fanden, war es für mich klar: Das bedeutet nichts Gutes!

Wie habt ihr von ihrer Diagnose erfahren?

Meine bessere Hälfte Robin und ich hatten ab Oktober für ein paar Wochen eine Reise nach Südostasien geplant. Meine Mutti wollte nicht, dass wir sie wegen ihr absagen – denn sie fing ja dann erst an, zum Arzt zu gehen und wurde von einem zum anderen geschickt. Das allein schon war eine lange Prozedur. Also begaben wir uns auf die Rundreise, auf der ich dann aber leider das Schlimmste erfahren musste: Es ist Lungenkrebs! Ab diesem Moment brach für mich meine kleine heile Welt zusammen und ich wollte einfach nur sofort zurück, denn wir waren ja so viele Tausende Kilometer von zu Hause weg … Meine Mama wollte nicht, dass ich die Reise abbreche und auch nicht, dass ich von der finalen Diagnose erfahre, deshalb war sie zuerst richtig sauer auf meinen Bruder, der es mir schließlich sagte!

Wir beendeten die Reise wie geplant, aber ich lebte nur noch in einer Blase und wusste nicht mehr, wo oben und unten ist. Zu Hause angekommen wurde uns dauernd Hoffnung gemacht, dass das Ganze operabel ist usw. – aber nach wochenlangem Hin & Her stürzte dann die nackte Wahrheit über mich herein: Eine Ärztin im Krankenhaus teilte mir unmissverständlich mit, dass meine Mama nicht mehr viel Zeit hat – und sie sich bereits damit abgefunden hat, dass es bald vorbei ist.

Wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass deiner Mama nicht mehr viel Zeit bleibt?

In meinem Kopf drehte sich alles unentwegt – es ist einfach nicht zu beschreiben, welche Gedanken & Emotionen einen da ununterbrochen ereilen. Mit den Wochen lernt man zwar, zu funktionieren – aber alles andere geht irgendwie nicht mehr! Meine Mama war so taff, dass sie meinte: „Sie hat ihr ganzes Leben lang alles für uns getan und auch viel gelitten (sie hat ihre Mama mit Anfang 20 auch an den Lungenkrebs verloren) und nun kann sie nicht mehr und wir müssten jetzt mal stark sein und das irgendwie schaffen.“ Hmmm naja für sie war das irgendwie alles ok so, denn sie wollte nicht mehr – im Alter von 67 den Kampf gegen den Krebs zu verlieren, war für mich undenkbar und deshalb war ich so verzweifelt, dass sie nicht mehr kämpfen wollte. Jetzt – Jahre später – sehe ich das alles ganz anders und verstehe einige Dinge viel besser.

Wie liefen die letzten Wochen bis zu ihrem Tod ab?

Ich merke gerade, dass ich ein Buch über diese gesamte Zeit, die ja nicht länger als ein paar Wochen dauerte, schreiben könnte. Aber ich versuche jetzt mal weiterhin, alles kurz zusammen zu fassen. Als meine Mutti vom Krankenhaus Hoyerswerda (mein Geburtsort und Wohnort meiner Eltern) in die Klinik nach Dresden (mein Wohnort seit 2005) gebracht wurde – angeblich wegen eine Bestrahlung – wusste ich innerlich schon, dass sie nicht mehr dort raus kommen wird. Wollte es aber natürlich nicht wahr haben. So landete sie nach ein paar Tagen auf der Palliativ-Station, wo sie bis zum 20.12. noch einige Angehörige und Freunde empfing, um sich zu verabschieden. Diesen Menschen gab ich den Vorrang und organisierte fleißig alles, so wie ich es immer tat: Erstmal die Anderen.

Am 21.12. wollte ich dann auch endlich gern mal ein paar Stunden mit meiner Mama verbringen und plante, im Krankenhaus zu übernachten. Mein Papa schlief bei uns schon seit ein paar Tagen, damit er Mutti auch jeden Tag besuchen kann. Als mein Mann, mein Vati und ich morgens am Frühstückstisch saßen, klärten wir, was jeder von uns tut. Mein Mann hatte noch einen Termin und mein Papa wollte schon mal ins Krankenhaus fahren. Er meinte, ich könne ja dann hinterher kommen.

Vor seiner Abfahrt erzählte er mir dann noch von seiner Vision – kein Traum, wirklich eine Vision, als er nachts wach lag: Er sah Hirten auf einem Berg mit grüner Wiese und eine sehr lange Schlange von Menschen, die ihm fast alle bekannt vor kamen. Und plötzlich sprach ein Hirte zu ihm: „Mach Dir keine Sorgen, wir nehmen Deine Anita jetzt mit – bei uns ist sie in guten Händen.“ Ich bekam Gänsehaut und mir schossen die Tränen in die Augen – ich heulte wie ein Schlosshund in den Armen meines Vaters. Als er los gefahren war, sah ich einen verpassten Anruf aus dem Krankenhaus und wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich rief zurück und eine der Palliativ-Schwestern sagte mir, ich solle sofort kommen – meine Mama wartet schon auf mich.

Keine Ahnung, wie – aber irgendwie kam ich am Vormittag des 21.12. im Krankenhaus an. Wie ferngesteuert war ich unterwegs. Scheinbar begleitete mich mein Schutzengel und verschaffte mir direkt vor dem Krankenhaus-Eingang sogar noch eine Parklücke, wo sonst nie eine frei ist. Ich schaute kurz auf die Uhr – es war genau 11:11 Uhr. Ich ging zu Muttis Zimmer, wo an der Tür so ein dickes Tuch hing, was die Tür ein Spalt aufhielt. Ich stürmte hinein, meine Mama drehte den Kopf in meine Richtung – während ich Jacke und Tasche von mir warf, um mich auf diesen einen Moment vorzubereiten, vor dem bereits ich mein Leben lang riesige Angst hatte.

Mein Papa saß auf der einen Bettseite, ich auf der anderen – sonst war keiner da, mein Bruder war auf der Arbeit und mein Mann bei seinem Termin. Sie kamen alle später dazu. Ich legte meiner Mama den kleinen Schutzengel in die Hand, den ich ihr vor einigen Wochen geschenkt hatte, um sie durch diese schwere schmerzhafte Zeit zu begleiten. Und plötzlich stand noch jemand neben mir – es war Muttis Physiotherapeutin, die mir gut zusprach. Ich schaute Mutti an, wie sie kurz seufzte und sah dann, wie sie ihren letzten Atemzug nahm. Dann fragte ich die Physiotherapeutin, ob es das jetzt war und sie nickte. Ab diesem Zeitpunkt war ich endgültig in einer Blase drin.

Wie hast du dich gefühlt, nachdem sie gestorben ist?

Einerseits spürte ich die Erleichterung der Seele meiner Mama, dass sie endlich diesen Schmerzkörper verlassen darf – aber andererseits wollte ich sie dennoch einfach nicht loslassen und lag ewig in ihrem Arm. Ich weiß gar nichts mehr von den kommenden Stunden – ich habe nicht mitbekommen, wie die anderen alle nach und nach eingetroffen sind, wie mein Bruder und seine Freundin all ihre Sachen zusammen gesucht haben und so weiter.

Ich weiß nur, dass ich am Abend, als wir dann wieder zu Hause waren, auf dem Hof draußen standen und etwas zu Mutti sagten und plötzlich pfiff eine Sturmböe quer über den Hof an uns vorbei.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Die Zeit bis zur Bestattung war geprägt von Nervenzusammenbrüchen und die Frage nach dem WARUM schwebte in jedem Moment mit. Ich konnte das alles nicht begreifen! Ich wollte meine Mutti doch noch so viel fragen und ihr noch von meinen Träumen erzählen und überhaupt … Hätte ich meinen Mann nicht gehabt – keine Ahnung, wo ich da jetzt wäre bzw. wie ich da jetzt wäre. Er hat mich zu jeder Zeit sowas von selbstlos unterstützt, mir und meinem Papa so vieles abgenommen! Selbst beim Bestatter hat mein lieber Seelenmensch meinen Paps und mich so toll unterstützt! Er ist das Beste, was mir je passiert ist.

Gab es etwas in dieser Zeit, das dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja klar mir ist vieles in Erinnerung geblieben, vor allem das Weihnachtskonzert der „medlz“ – die beste weibliche A capella Band, die es auf Erden gibt! Meine Mama hat sie ebenso vergöttert. Da das Konzert am 22.12.2018 war, konnte meine Mama ja leider nicht mehr dabei sein. Sie hatte aber schon lange vorher auch eine Karte, weil wir dachten, dass es noch klappt. Da wir uns privat schon etwas kannten, schickte ich der Band noch vor dem Tod meiner Mama eine Sprachnachricht und bat sie, mir für meine Mama ein Weihnachtsgeschenk zu erfüllen. Prompt taten Sie es, obwohl sie gerade auf Tour waren: Sie schickten meiner Mama ein tolles Ständchen (ein herzerwärmendes Gospel-Lied) und gaben ihr danach noch ganz liebe persönliche Worte mit auf den Weg. Als ich meiner Mama zwei Tage vor ihrem Tod das Video zeigte, liefen ihr viele Tränchen die Wange hinunter.

Nachdem wir am 22.12. beim Bestatter in Hoyerswerda alles geklärt hatten, fuhren wir direkt zum Weihnachtskonzert der „medlz„ nach Dresden und schafften es gerade so zum Beginn des Konzertes. Bine – die Frontfrau der Band – hat für uns als Familie und Freunde eine ganze Kirchenbank reserviert und mir zudem noch ein tolles Buch zum Thema (ihr eigenes) mit persönlicher Widmung hingelegt. Wir alle spürten Muttis Seele in der Kirche herum fliegen und wussten, alles ist richtig so, wie es gerade ist.

Der Tag der Bestattung – wie hast du ihn erlebt?

Der Tag der Bestattung war der erste Tag nach einer langen düsteren Schlechtwetter-Zeit, an dem endlich die Sonne wieder schien. Wow – magic! Denn ab dem Todestag meiner Mama zur Wintersonnenwende 2018 bis zum Tag der Bestattung am 18. Januar war kein einziger Sonnenstrahl zu sehen gewesen. Ich ging am Morgen vor der Bestattung noch für mich allein eine Runde spazieren und war dann bereit für den „offiziellen“ Abschied.

Die Bestattung war auf jeden Fall ein wichtiger Schritt für meinen Abschied bzw. für unser aller Abschied. Da sah ich erstmals, wie geschätzt meine Mutti war – es kamen weit über 100 Menschen! Ich traute meinen Augen nicht! Viele mussten sogar draußen stehen, weil im Raum kein Platz mehr war! Das war alles sehr wertvoll für mich – ich habe noch niemals zuvor in meinem Leben so vielen Menschen hintereinander die Hand geschüttelt.

Wie waren die ersten Wochen und Monate nach der Bestattung?

Als ich mich wieder etwas aufgerappelt habe, versuchte ich irgendwie nach vorn zu blicken, was mir an manchen Tagen besser gelungen ist und an anderen wiederum schlechter. Vom Gefühl her weiß ich ja, dass Mutti „nur“ in einen anderen Raum gegangen ist und es fühlte sich immer noch so an, als würde sie bald wieder durch unsere Tür kommen.

Was hast du unternommen, um besser mit deiner Trauer zurecht zu kommen?

Ich habe mich dazu entschieden, selbst etwas in die Hand zu nehmen und für mich selbst zu tun. Meinen Kurantrag habe ich direkt nach der Beerdigung gestellt und ein paar Monate später auch bewilligt bekommen. Weiterhin habe ich beschlossen, mir psychologische Hilfe zu holen, aber da ist es genauso: Man kommt erstmal auf eine Warteliste, weil keiner Kapazitäten frei hat! Ich habe dann ein wenig mit Menschen von Fach aus meiner unmittelbaren Umgebung gesprochen – Bekannte sozusagen. Das half mir etwas.

Außerdem wollte ich doch schon immer mal sowas wie eine Fastenkur machen. Dahingehend brachte mich meine liebe Physiotherapeutin auf eine Idee, die ich dann auch – zusammen mit meinem Mann Robin – in die Tat umsetzte: Eine geführte Fastenkur auf Hiddensee mit verschiedenen Kursangeboten. Das hat mir ungemein geholfen, in einer Gemeinschaft zu sein, die mir zuhörte. Menschen in meinem näheren Umfeld zu Hause – ja sogar die Familie – schaffte das nicht! Viele Freunde wendeten sich in meiner schlimmsten Lebens-Phase sogar von mir ab! In dieser folgenden Zeit habe ich so viel über mich, mein Leben und meine Umgebung gelernt.

Darüber hinaus habe ich damit angefangen, Meditation zu üben und mich somit zu entspannen und in mein Herz zu gehen. Ich habe mich somit gegen eine psychologische Behandlung entschieden, sondern suchte mir alternative Möglichkeiten, die mehr meiner Natur und meinem Glauben entsprechen. Auf diesem Weg traf ich dann tolle Menschen, mit denen ich mich austauschen konnte und meine Gefühle und Emotionen teilen konnte. Ich habe angefangen, meine Blockaden durch Bioenergetische Anwendungen zu lösen und kam anhand einer umfassenden Lebensberatung wertvolle Impulse für mein Leben. Seitdem hat sich noch einmal mehr ganz ganz viel verändert und ich lebe endlich MEIN Leben und nicht mehr nur das der anderen. Auch die Themen Sterben & Tod sehe ich heute aus einem ganz anderen Blickwinkel und mich kann nie wieder im Leben etwas so sehr schockieren oder schwächen. Ich habe Erkenntnisse gewonnen, die mich intuitiv schon immer begleitet haben.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Die Trauer an sich ist verschwunden, wobei es an gewissen Tagen immer noch so etwas wie Schmerz gibt. Aber ich versuche an diesen Tagen dann immer etwas Schönes zu machen, weil keine Seele will, dass man ihr ewig hinterher trauert! Liebevolle Erinnerungen sind für immer in meinem Herzen. Jeden Tag zünde ich symbolisch eine Kerze für meine Mama an und ich erzähle ihr von den Dingen, die in meinem Leben passieren. Ich bin kein Mensch, der dazu auf den Friedhof gehen muss – ich mache das immer & überall … Ich trage sie im Herzen, bis ich selbst den Raum wechsle. Mein Frieden habe ich darin gefunden, zu glauben, dass die Seele unsterblich ist und wir alle unseren Seelenplan verfolgen sowie unseren Seelenweg gehen sollten – denn wenn wir das tun, handeln wir aus unserem Herzen und wir wissen, dass der „Tod“ nicht das Ende ist.

Katja

Storytelling Friends

Wie war der Tag, als du von dem Tod erfahren hast?

Als ich vom Tod meiner Freundin Katja erfahren habe, war ich alleine Zuhause. An diesem Tag sind bei mir tatsächlich alle Schulstunden ausgefallen und ich konnte den Morgen ganz gemütlich angehen. Ich sehe mich noch im übergroßen Bademantel meines Vaters auf dem Sofa sitzen, als sich die Nachricht langsam über Facebook zu mir durchkämpfte.

Zunächst habe ich diese Nachrichten, dass Katja am vorherigen Abend plötzlich zu Tode gekommen war, nicht realisiert – sogar als dummes Gerede abgetan. Ich weiß noch, dass ich dachte „Was reden die da alle für einen Schwachsinn?“. Gleichzeitig machte sich ein seltsames Gefühl von Panik in mir breit, bis ich kurze Zeit später von einer Freundin angerufen wurde, die mir die schreckliche Neuigkeit bestätigte.

Was hast du in dem Moment gefühlt, als du es erfahren hast?

Die Worte, die mir am Hörer gesagt wurden, haben sich angefühlt als wären sie ausgedacht. Alles in dem Moment erschien mir einfach surreal. Ich habe schrecklich zu weinen angefangen. So ein Weinen, welches den ganzen Körper durchschüttelt. Bei dem man kaum mehr Luft bekommt. Dann lief ich die ganze Zeit in der Wohnung auf und ab, ehe ich die Kraft dazu hatte, meine Mutter auf der Arbeit anzurufen, damit sie nach Hause kommen soll.

Währenddessen rasten extrem viele Gedanken in meinem Kopf umher, vor allem was die Umstände des Todes anging, da Katja kerngesund war und kurz vor ihrem Abitur stand. Was ist passiert? Wieso stirbt ein junger Mensch so unerwartet? Wie kann das sein? Mein Kopf wollte direkt Antworten haben, damit ich mich an etwas festhalten konnte.

Erinnerst du dich noch an bestimmte Gedanken, die dir durch den Kopf gegangen sind?

Rückblickend klingt es extrem furchtbar, aber in den ersten Tagen habe ich immer wieder gedacht, wie unglaublich unfair ich es finde, dass mir und meinem Freundeskreis dieser Schicksalsschlag widerfährt. Ich habe mir so oft gewünscht, dass einfach jemand anders gestorben wäre. Ich hatte eine extreme Wut in mir; ich wusste wirklich nicht wohin mit diesen Gefühlen. Für mich war es deshalb einfacher, einen gewissen Unmut auf alles um mich herum zu schieben.

Ich habe mir wirklich gewünscht, dass der Tod anderen Leuten passiert, einem anderen Freundeskreis, dass man selbst einfach nicht so nah dran ist und jetzt mit diesem Erlebnis leben muss. Jetzt wo ich älter bin, finde ich meine Gefühle, die ich als 19-Jährige hatte, zwar berechtigt; heute würde ich aber ganz anders darauf reagieren. 

Was hast du aus dieser Erfahrung gelernt?

Mittlerweile weiß ich, dass wir alle irgendwann jemanden verlieren werden, der uns nah steht und der Tod zum Leben dazugehört. Dass er nicht immer nur fernab passiert, sondern ganz nah sein kann. Das Leben ist endlich und natürlich ist es gut, dass wir nicht jeden Tag darüber nachdenken, wie fragil unser oder das Leben anderer Personen ist. Aber: Sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir nur dieses eine Leben haben und wir es nutzen sollten, ist für mich heute wichtiger denn je und eine der größten Lektionen, die ich in meinem noch recht jungen Leben lernen durfte.

Nach Katjas Tod habe ich mich viel mehr aus meiner Komfortzone rausbewegt, Worte und Gefühle ausgesprochen, die ich sonst vielleicht für mich behalten hätte und für Dinge gekämpft, bevor ich es bereut hätte, es nicht getan zu haben. Da Katja ebenfalls jemand war, der schon in so jungen Jahren für sich selbst und andere einstand, rede ich mir bis heute ein, dass ich diese tolle Eigenschaft von ihr einfach in mir weiterleben lasse.

Wie war die Zeit bis zur Bestattung für dich?

Katjas Beisetzung war einige Wochen nach ihrem Tod. Die Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen versinkt bei mir in ein schwarzes Loch. Meine Erinnerungen sind teilweise so verblasst, als hätte ich in der Zeit einfach nicht mehr existiert. Raum und Zeit verschwimmen bei mir in der ersten Trauerphase extrem ineinander.

Heute bin ich einerseits froh darüber, nicht mehr alle Details zu wissen, denn: Ich kann darauf vertrauen, dass mich mein eigener Körper in Extremsituationen schützt und ich manche Dinge einfach zu meinen Gunsten vergesse. Andererseits ist es merkwürdig zu wissen, dass man Tage oder sogar Wochen nicht mehr rekapitulieren kann, obwohl man in dieser Zeit extrem viel erlebt und durchlitten hat.

Der Tag der Bestattung – Wie hast du ihn erlebt?

Die Bestattung sehe ich, im Gegensatz zu vielem anderem, noch sehr lebendig vor Augen. Katjas Familie hatte eine große Trauerfeier auf die Beine gestellt; vor allem viele Freunde und Mitschüler sind zur Beerdigung gekommen, um Katja zu verabschieden. Mir bricht es bis heute das Herz, wenn ich daran denke, meine Freunde so verzweifelt zu sehen. Die Beerdigung an sich hat mir tatsächlich nicht den Anstoß dazu gegeben, den ersten Schritt des Verarbeitungsprozesses einzuleiten. Es war einfach viel zu unwirklich und nicht greifbar für mich.

So richtig realisieren konnte ich das erst, nachdem ich einige Monate später mein Abitur abgeschlossen und endlich Zeit für mich hatte, um alle Eindrücke zu verarbeiten. Die Trauer zu bewältigen, weiterhin in die Schule gehen, das Abitur halbwegs auf die Reihe bekommen – das alles irgendwie gleichzeitig zu bewältigen, war extrem anstrengend für mich. Ich brauchte dringend eine Auszeit und wollte erstmal nichts von Verpflichtungen wissen. Meine Freunde und ich waren alle noch so jung und der Tod kam einfach so plötzlich über uns alle herein, man wusste einfach nicht, wie man das Ganze durchstehen soll.

Gab es etwas, das dir geholfen hat?

Wertvoll an dieser Zeit war für mich vor allem, dass ich wusste, dass man mit seinem Schmerz nicht allein war. Ich habe Trost darin gefunden, dass wir alle im selben Boot sitzen und die Gedanken und Gefühle, die man durchlebt hat, mit unzähligen Leuten teilen konnte. Menschen, die einen wirklich verstanden haben, waren für mich ein Rettungsanker in einer Zeit, in der man wirklich dachte, man wird mit der nächstgrößeren Welle für immer fortgespült.

Eines kann ich aber ganz sicher sagen: Katjas Tod und alles, was danach kam, hat mir vor allem gezeigt, wie wichtig Freundschaften sind. Bis heute schweißt meine Freundinnen, die Katja am nächsten standen, und mich ein unsichtbares Band zusammen. Auf diese Menschen, das weiß ich, kann ich mich mein ganzes Leben lang verlassen.

Wie hat sich Trauer für dich angefühlt?

Ich glaube, das Gefühl von Trauer kann man erst so richtig nachempfinden, wenn man sie selbst erlebt hat. Es fällt mir sehr schwer, die passenden Worte zu finden, wenn ich an Trauer denke. Gerade weil ich weiß, dass das Gefühl nochmal von Fall zu Fall ganz unterschiedlich ausfallen kann.

Ich selbst habe mich gefühlt, als wäre ich von der Realität abgeschnitten worden. Alles ist dumpf, schwer, nicht greifbar. Man lebt plötzlich unter einer schweren Decke, während alles um einen herum weitergeht. Man selbst macht beim „normalen“ Leben aber nicht mehr mit.

Wie schaust du heute auf alles zurück?

Trauer ist und bleibt ein ständiger Prozess. Für mich hat die Trauerarbeit nie aufgehört, sie wechselt über die Jahre einfach nur ihre Intensität. Das erste Jahr war sehr hart. Die Wochen um den ersten Todestag von Katja herum waren rückblickend besonders schwer, weil ich das Gefühl hatte, mich überkommen dieselben lähmenden Gefühle, die ich damals in den ersten Wochen nach Katjas Tod gespürt hatte.

Nach fast 10 Jahren kann ich sagen, dass diese extreme Schwere, die mit dem Tod einhergeht, fortgegangen ist. Das gibt einem Hoffnung – auch für weitere Verluste. Man weiß nach einer gewissen Zeit einfach: „Ich habe jemanden verloren und ich vermisse diese Person und das Leben, was ich vor diesem Ereignis hatte. Aber ich überlebe es, ich werde es schaffen.“

Wir nehmen dich nach deinem Verlust an die Hand

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